Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
Durch wie viele ebensolche Treppenhäuser war ich in New Orleans nicht schon gegangen. Hier gab es mindestens fünf davon. All die von den Füßen vieler Kinder ausgetretenen Stufen waren mir vertraut, so wie die seidige Oberfläche des Geländers, mit seinem im Laufe des Jahrhunderts wieder und wieder gewachsten Holz.
Als ich das zweite Stockwerk erreichte, stellte ich fest, daß sich hier der Durchgang zur Kapelle befand. Sie war geräumiger, als ich vermutet hatte. Aber in meinem Leben hatte ich schon viele Kirchen gesehen, die von außen auch nicht größer wirkten. Um die zwanzig Bankreihen gab es rechts und links vom Mittelgang. Die Stuckdecke war gewölbt und mit hübschen Verzierungen versehen, die alten Stuckmedaillons, an denen einst zweifellos gasbetriebene Kronleuchter gehangen hatten, hielten noch immer fest im Putz. Die bunten Glasfenster waren zwar nicht mit bildlichen Darstellungen versehen, aber dennoch schön gearbeitet, wie das Licht der Straßenlampen unschwer erkennen ließ. Und am unteren Rand jedes Fensters stand in schönsten Lettern der Name des Spenders. Ein Ewiges Licht gab es nicht, jedoch stand eine Reihe von Kerzen vor einer Statue der Himmelskönigin; so nennt man die Heilige Jungfrau, wenn sie mit einer geschmückten Krone dargestellt wird.
Diese Kapelle war wohl in demselben Zustand wie damals, als die Schwestern sie nach dem Verkauf verlassen hatten. Selbst das Weihwasserbecken war noch vorhanden, wenn auch nicht von einem marmornen Engel dargeboten, sondern nur als Marmorschale auf einer Säule. Über dem Eingang zur Kapelle befand sich eine Empore. Als ich unter ihr hindurchschritt, fiel mir sofort die erstaunlich klare Gliederung des gesamten Raumes auf. Wie mußte man sich wohl fühlen, wenn eine Kapelle zum eigenen Wohnsitz gehörte? Vor zweihundert Jahren hatte ich häufig genug in der Kapelle meines Vaters gekniet; allerdings war das kaum mehr als ein winziger, bruchsteingemauerter Raum unseres Schlosses gewesen, doch dieses weite Gewölbe hier mit seinen alten elektrischen Ventilatoren, die die Sommerhitze vertreiben sollten, schien mir die gleiche Atmosphäre zu haben wie damals die kleine Kapelle in meinem Vaterhaus.
Plötzlich schien mir das gesamte Klostergebäude eher ein Palast zu sein und die Kapelle geradezu eines Königs würdig. Ich stellte mir vor, wie ich hier leben würde - bestimmt nicht so, daß Dora es billigen könnte, sondern in Glanz und Gloria, endlose, glänzend gebohnerte Flure durchschreitend auf meinem Weg zu dieser heiligen Zufluchtsstätte, in der ich Nacht für Nacht meine Gebete sprechen würde.
Ich mochte diesen Ort. Ein Gedanke drängte sich mir auf: Ich sollte ein Kloster kaufen, irgendwo an einem vergessenen Fleckchen in einer modernen Großstadt, und dort würde ich leben, in meinem eigenen Palast, inmitten seiner Sicherheit und Großartigkeit. Mein Respekt vor Dora wuchs. Zahllose Europäer lebten in solchen mehrstöckigen Gebäuden mit köstlich intimen Innenhöfen; in Paris gab es sicherlich eine Menge davon. Doch auch hier, in Amerika, mußte es entzückend sein, so europäisch-luxuriös zu leben.
Aber das war natürlich nicht Doras Traum. Sie wollte hier ihre Frauen ausbilden, ihre weiblichen Prediger, die, feurig wie einst der heilige Franziskus, das Wort Gottes verkünden sollten.
Na ja, sollte Rogers Tod sie in plötzlichen Unglauben stürzen, könnte sie hier immerhin in allem Glanz leben.
Und welche Macht hatte ich denn über Dora, daß ich ihre Träume hätte beeinflussen können? Wessen Wünschen würde ich Vorschub leisten, wenn ich sie irgendwie überreden könnte, diesen enormen Reichtum zu akzeptieren und eine Prinzessin zu sein in diesem Palast? Ein einziges menschliches Wesen, glücklich und bewahrt vor dem Elend, das Religion so leicht hervorbringen kann? So ganz übel war die Vorstellung nicht. Und so typisch für mich. Mir den Himmel auf Erden auszumalen, pastellfarben gestrichen, mit marmornen Böden und zentralgeheizt.
Gräßlich, Lestat!
Wer war ich, an so etwas nur zu denken? Nun ja, sicher, wie die Schöne und das Biest könnten wir hier leben, Dora und ich. Ich mußte schallend lachen. Ein Schauder lief mir über den Rücken, aber die Schritte vernahm ich nicht.
Ich fühlte mich plötzlich sehr allein. Ich lauschte, alles sträubte sich in mir.
»Wage bloß nicht, mir jetzt zu nahe zu kommen«, flüsterte ich, obwohl mein Verfolger meines Wissens gar nicht hier war. »Dies ist eine Kapelle. Hier bin ich
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