Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
aufpassen, daß sie ihren gesunden Verstand behielt! Verdammt.
Ich sah ihn an. Er saß immer noch in Louis’ Stuhl und beobachtete mich.
Ich seufzte. »Du wirst mich nicht zufrieden lassen, nicht wahr?«
Er stutzte, dann lachte er, wobei sein bisher teilnahmsloser Gesichtsausdruck fast schon freundlich wurde.
»Nein, natürlich nicht«, sagte er mit gedämpfter Stimme, als wolle er vermeiden, mein Gleichgewicht noch stärker zu erschüttern. »Lestat, ich habe jahrhundertelang auf jemanden wie dich gewartet. Ich habe dich zwei Jahrhunderte lang beobachtet, ich kann dich nicht in Ruhe lassen, so leid es mir tut, aber ich will nicht, daß du dich so elend fühlst. Was kann ich zu deiner Beruhigung tun? Irgendein kleines wie auch immer geartetes Wunder, so daß wir weitermachen können?«
»Und wie, zur Hölle, wird es weitergehen?«
»Ich werde dir alles erklären.« Er zuckte leicht mit den Schultern. »Dann wirst du verstehen, warum ich siegen muß.«
»Das bedeutet… daß ich mich weigern kann, mit dir zusammenzuarbeiten, richtig?«
»Aber sicher. Niemand kann mir helfen, der es nicht freiwillig tut. Und ich bin müde, dieser ganzen Aufgabe müde. Ich brauche Unterstützung. Das hat dein Freund David schon richtig verstanden, als er damals diese zufällige Erscheinung hatte.«
»War diese Erscheinung denn ein Zufall? Was geschah da, wie war das… ? Sollte David euer Gespräch damals überhaupt mitkriegen?«
»Das ist schwer zu sagen.«
»Habe ich eure Pläne durcheinandergebracht, als ich David nahm und ihn zu einem der Unseren machte?«
»Ja und nein. Aber Tatsache ist, daß David eins richtig verstand, nämlich, daß meine Aufgabe schwer ist und ich müde bin. Seine restlichen Vorstellungen davon, na ja -« Er schüttelte den Kopf. »Bedenke nur das eine: Du bist derjenige, den ich jetzt will, und es ist außerordentlich wichtig, daß du alles erfährst, ehe du dich entscheidest.«
»So schlecht bin ich also?« flüsterte ich mit zitternden Lippen. Ich war drauf und dran, wieder loszuheulen. »Die Sterblichen tun die schrecklichsten Dinge, unglaubliche Scheußlichkeiten fügen sich die Menschen gegenseitig zu, überall auf der Welt lassen sie Frauen und Kinder unsäglich leiden! - Und derart schlecht bin ich, daß du mich willst! - Wahrscheinlich war David zu gut, er ist nicht dermaßen böse geworden, wie du geglaubt hast. Stimmt das?«
»Nein, natürlich bist du nicht so schlecht«, sagte er besänftigend. »Das ist es ja gerade.«
Mittlerweile nahm ich die Einzelheiten seiner Erscheinung etwas deutlicher wahr, nicht weil sie immer konkreter wurde, wie es bei Roger gewesen war, sondern weil ich mich langsam etwas beruhigte. Sein Haar hatte die Farbe von dunklem Aschblond. Die Augenbrauen waren sehr klar gezeichnet, sie ließen weder den Eindruck von Aufgeblasenheit oder Arroganz noch den von Naivität aufkommen. Seine Allerweltskleider wirkten auf mich nicht wie echte Kleidung; zwar schienen sie irgendwie aus Materie zu sein, aber der Überrock war zu glatt und hatte keine Knöpfe, und das weiße Hemd war gar zu schlicht.
Er fuhr fort: »Du weißt, daß du immer dein Gewissen gespürt hast! Genau danach suche ich doch, merkst du das nicht? Gewissen, Vernunft, Sinn, Hingabe. Meine Güte, ich konnte dich gar nicht übersehen. Und eins sage ich dir: Mir kam es vor, als hättest du mich gerufen.«
»Niemals.«
»Nun komm aber, erinnere dich all der Herausforderungen, die du dem Teufel entgegengeschleudert hast.«
»Das war romantisch gemeint, eher so eine Art dichterische Freiheit, wie man’s nimmt.«
»Nein, nein. Denk an alles, was du gemacht hast. Wie du Akascha, eure Urmutter, geweckt und sie auf die Menschheit losgelassen hast.« Er lachte auf. »Als wenn die Evolution nicht schon reichlich Monster erzeugt hätte. Und dann dein Abenteuer mit dem Körperdieb. Noch einmal zu Fleisch und Blut zu werden und diese Chance verwerfen, damit du wieder sein konntest, wozu du geworden warst. Du weißt, daß deine Freundin Gretchen im Regenwald als Heilige gilt, nicht wahr?«
»Ja. Ich habe es in den Zeitungen gelesen. Ich weiß -«
Mein Gretchen, die Nonne, meine Geliebte während meiner so kurzen Zeit als Sterblicher, hatte nie wieder auch nur ein Wort gesprochen seit der Nacht, in der sie vor mir geflohen war. In ihrer Missionskirche hatte sie sich vor dem Kreuz auf die Knie geworfen, und dort ist sie liegengeblieben, Tag und Nacht in Gebete versunken. Seitdem nimmt Gretchen fast keine Nahrung
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