Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
alles erläutern -, aber diese Worte sollten so eine Art zusätzliche Gabe sein - wie sagen wir in New Orleans dazu, lagniappe? -, eine Art Beweis, der mich überzeugen soll, daß er ist, was er zu sein vorgibt.«
Irritiert legte sie die Hände an ihre Schläfen und schüttelte den Kopf. »Warte. Die Wahrheit über Onkel Mickeys Auge - hat er das ganz bestimmt so gesagt? Hat mein Vater irgend etwas von Onkel Mickey erzählt?«
»Nein, und auch die Gedanken, die Seele deines Vaters enthüllten nichts dergleichen. Der Teufel hat behauptet, daß Roger die Wahrheit nicht kannte. Was soll das heißen?«
»Er kannte sie wirklich nicht«, erwiderte sie. »Seine Mutter hat ihm nie die Wahrheit gesagt. Mickey war sein Onkel, also der Bruder meiner Großmutter. Er starb, als mein Vater noch ein Junge war; mein Vater hat ihn wirklich geliebt. Dieser Onkel Mickey hatte einen gespaltenen Gaumen und ein Glasauge, und als mein Vater mir eines Tages ein Foto von ihm zeigte, erzählte er mir dabei, daß sein Onkel Mickey so gerne Feuerwerke veranstaltete, und als er eines Tages mit Feuerwerkskörpern hantierte, verfing sich ein Kracher in einer Blechdose, explodierte dort, und die Dose flog ihm ins Auge. Das war die Geschichte, wie sie mir erzählt worden war, und ich kannte ihn selbst ja nur von den Fotos, denn er und auch meine Großmutter waren schon vor meiner Geburt gestorben.
Die Verwandten meiner Mutter haben mir aber erzählt, was wirklich geschehen war. Demnach war es so: Die Mutter meines Vaters war wohlhabend und besaß ein schönes Haus in der St. Charles Avenue.«
»Darüber weiß ich Bescheid, ich kenne auch das Haus, dort hat Roger Terry getroffen.«
»Ja, genau, aber meine Großmutter war in ihren jungen Jahren arm, und ihre Mutter arbeitete als Hausmädchen im Garden District wie so viele irische Mädchen. Und Rogers Onkel Mickey war einer dieser leichtlebigen Typen, die nichts Rechtes zustande bringen.
Von Onkel Mickeys tatsächlicher Lebensführung hat mein Vater nie etwas erfahren. Die Mutter meiner Mutter sagte immer, mein Vater spiele sich auf, was sehr dumm sei, da er doch aus so kleinen Verhältnissen komme.«
»Ah, ich verstehe.«
»Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, war Polizist, der kannte Rogers Familiengeschichte. Er behauptete, Rogers Großvater sei ein Trunkenbold gewesen und Onkel Mickey im großen und ganzen auch. In seiner Jugend jobbte Mickey als eine Art Vermittler für einen Buchmacher. Einmal hatte er Geld von einem Kunden zurückgehalten, anstatt es in eine Wette einzuzahlen, und unglücklicherweise wurde gerade dieses Pferd Sieger. Mickey hockte nun ziemlich verschreckt in Corona’s Bar.«
»In der Magazine Street«, warf ich ein, »die Bar dort gab es schon ewig, fast ein Jahrhundert lang.«
»Ja, und dann kamen die Handlanger des Buchmachers und zerrten Onkel Mickey in den hinteren Teil der Bar. Mein Großvater war dort, er hat alles miterlebt, aber er konnte nichts tun. Keiner hätte das gekonnt, aber es wollte auch niemand helfen, weil alle sich nicht trauten. Mein Großvater sah, wie die Männer Onkel Mickey schlugen und traten; sie haben ihm auch seinen Gaumen zerschmettert, so daß er hinterher nur noch undeutlich sprechen konnte. Schließlich traten sie ihn so sehr, daß sein Auge aus der Höhle sprang, und sie stießen es mit den Füßen über den Boden. Mein Großvater sagte jedesmal, wenn er mir die Geschichte erzählte: ›Dora‹, sagte er, ›man hätte dieses Auge retten können, aber stell dir vor, sie haben es zertreten. Ganz absichtlich haben sie es zertreten mit ihren spitzen Schuhen.‹«
Sie brach ab.
»Und das hat Roger nie erfahren?«
»Kein lebender Mensch weiß es«, sagte sie, »außer mir natürlich. Mein Großvater ist tot, und soweit ich weiß, lebt auch sonst niemand mehr, der dabei war. Onkel Mickey ist in den frühen Fünfzigern gestorben. Wenn Roger sein Grab besuchte, hat er mich immer mitgenommen. Er hatte Onkel Mickey gemocht - Onkel Mickey mit der dumpfen Stimme und dem Glasauge. Wie Roger sagte, mochte ihn jedermann irgendwie. Selbst Mutters Verwandtschaft. Er muß ein Schatz gewesen sein. Vor seinem Tod arbeitete er als Nachtwächter, wohnte in der Magazine Street über einer Bäckerei, und er starb an einer Lungenentzündung, ehe sie im Krankenhaus herausgefunden hatten, was ihm fehlte. Roger hat tatsächlich nie erfahren, was mit Onkel Mickeys Auge geschehen war, denn sonst hätten wir bestimmt darüber gesprochen.«
Ich dachte
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