Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
erst einmal durch den Kopf gehen.
»Weißt du, was allein heute alles auf der Welt geschehen ist«, fragte sie, »nur an diesem einzigen Tag? Wir beginnen unsere Fernsehübertragungen immer mit solchen Berichten; weißt du, wie viele Menschen in Bosnien starben, in Rußland und Afrika? Und wie viele Gefechte ausgetragen, wie viele Morde begangen wurden?«
»Ich weiß, was du sagen willst.«
»Was ich sagen will, ist, daß es höchst unwahrscheinlich ist, daß dieses Wesen die Macht hat, dich auszutricksen. Deswegen geh mit ihm. Es soll dir zeigen, was es versprochen hat. Und wenn ich unrecht habe… wenn du doch hereingelegt wirst und in der Hölle landest, dann habe ich einen gräßlichen Fehler gemacht.«
»Nein, das nicht. Du hast dann den Tod deines Vaters gerächt, sonst nichts. Aber ich stimme mit dir überein, daß Tricks in diesem Zusammenhang zu billig sind. Das sagt mir mein Instinkt. Ich will dir noch etwas über Memnoch, den Teufel, sagen, etwas, das dich vielleicht verblüffen wird.«
»Daß du ihn magst? Das ist mir schon die ganze Zeit klar.«
»Wie ist das möglich? Ich mag mich nicht einmal selbst. Natürlich habe ich eine gewisse Eigenliebe, ich bin mir selbst verpflichtet bis zu meinem Lebensende. Aber ich mag mich nicht.«
»Du hast letzte Nacht etwas zu mir gesagt«, bemerkte sie. »Nämlich, wenn ich dich brauchte, daß ich dich dann mit der Kraft meiner Gedanken, meines Herzens, rufen sollte.«
»Ja.«
»Das gleiche sage ich dir jetzt auch. Wenn du dieser Kreatur folgst, und du brauchst mich, ruf nach mir. Laß es mich so sagen: Wenn du dich nicht aus eigener Kraft entfernen kannst und meine Fürbitte benötigst, dann sende diesen Ruf aus. Ich werde dich hören. Ich werde deinetwegen den Himmel anrufen. Nicht um Gerechtigkeit, sondern um Gnade. Versprichst du mir, mich zu rufen?«
»Ich verspreche es.«
»Was wirst du jetzt machen?« fragte sie.
»Eigentlich wollte ich den Rest der Nacht bei dir bleiben und mich um deine Angelegenheiten kümmern. Meine zahlreichen sterblichen Verbündeten sollen sicherstellen, daß dir im Zusammenhang mit dieser Hinterlassenschart kein Leid geschehen kann.«
»Mein Vater hat das alles geregelt«, sagte sie. »Glaub mir, er hat das wirklich absolut clever angefaßt.«
»Bist du dir sicher?«
»Mit seiner üblichen Brillanz! Es wird mehr Geld in die Hände seiner Feinde fallen, als er mir vermacht hat. Es besteht also keine Notwendigkeit für sie, weiterzusuchen. Wenn erst einmal feststeht, daß er tot ist, werden sie das greifbare Vermögen nur so an sich reißen.«
»Du bist dir sehr sicher.«
»Absolut. Bring du deine Angelegenheiten in Ordnung, du brauchst dich nicht um meine zu sorgen. Bereite dich sorgfältig vor, so daß du dich wirklich auf diese Sache einlassen kannst.«
Lange Zeit beobachtete ich sie. Ich saß immer noch am Tisch; sie stand mit dem Rücken zum Fenster, eine Silhouette wie ein Scherenschnitt, wenn ihr bleiches Gesicht nicht gewesen wäre.
»Gibt es einen Gott, Dora?« hauchte ich. Genau diese Frage hatte ich schon so oft gestellt! Gretchen hatte ich dasselbe gefragt, als ich in Fleisch und Blut in ihren Armen lag.
»Ja, Lestat, es gibt einen Gott«, antwortete Dora. »Sei dessen ganz sicher. Vielleicht hast du so oft und so laut zu Ihm gebetet, daß Er dich endlich beachtet. Manchmal frage ich mich, ob Gott nicht dazu neigt, nicht hinzuhören, wenn wir schreien und weinen, sondern ganz absichtlich Seine Ohren verschließt!«
»Willst du hierbleiben, oder soll ich dich lieber nach Hause bringen?«
»Ich bleibe hier. Nie im Leben möchte ich noch einmal auf diese Art reisen. Ich glaube, ich werde ein gut Teil meines restlichen Lebens in dem Versuch verbringen, mich präzise daran zu erinnern – was mir bestimmt nicht gelingen wird. Ich will hier in New York bleiben, bei den Sachen meines Vaters. Und was das Geld betrifft, ist deine Mission ausgeführt.«
»Du nimmst die Sammlung und das Vermögen?«
»Ja, natürlich. Ich werde auch Rogers kostbare Bücher aufbewahren, bis man sie der Öffentlichkeit vorrühren kann - seinen geliebten Wynken de Wilde.«
»Kann ich noch irgend etwas für dich tun?« fragte ich.
»Sag mir… meinst du, daß du Gott liebst?«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Warum sagst du das?«
»Wie könnte ich Ihn lieben? Wie kann Ihn überhaupt jemand lieben? Was hast du mir denn gerade noch über den Zustand der Welt erzählt? Merkst du denn nicht, daß Gott heutzutage von allen Menschen gehaßt
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