Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Die Markuskirche mit ihren wunderbaren byzantinischen Mosaiken und Gemälden und die byzantinische Kirche auf Torcello hatten mir gezeigt, was für Herrlichkeiten die Santa Sofia für den Betrachter einst vorzuweisen hatte. Wenn ich an das muntere Menschengedränge in Venedig dachte, die Studenten, die Gelehrten, Anwälte und Kaufleute, dann konnte ich mir selbst in dieser öden, verfallenen Szenerie intensives Leben ausmalen.
Der Schnee war tief und fiel in dichten Flocken, und nur wenige Menschen waren an diesem eisigen frühen Abend unterwegs. So hatten wir die Wege für uns und schritten unbeschwert einher. Wir erreichten eine sich lang hinstreckende, niedergebrochene Wehrmauer, deren kaum noch erkennbare Brüstung unter dem Schnee verborgen war. Von dieser Stelle aus schaute ich auf die untere Stadt hinab, den Ortsteil, den wir Podil nannten, der einzige Teil von Kiew, der erhalten geblieben war, der Teil, in dem ich in einem primitiven Haus aus Holz und Lehm als Kind gelebt hatte, nur ein paar Meter vom Fluss entfernt. Ich betrachtete die tief herabgezogenen Dächer, deren schmutziges Stroh vom Schnee verschönt wurde, sah die rauchenden Schornsteine und die engen, krummen, schneebedeckten Gassen. Schon vor langen Jahren war diese Anhäufung von Holzhäusern und sonstigen Gebäuden am Fluss entlang entstanden und hatte jedes Feuer und selbst die schlimmsten Tatarenüberfälle überstanden.
Es war ein Stadtteil, in dem Händler und Kaufleute und Handwerker lebten, die alle den Fluss brauchten und die Kostbarkeiten, die er aus dem Orient hierher brachte, sowie das Geld, das für die Waren floss, die der Fluss dann mit nach Süden in die europäische Welt nahm. Mein Vater, der unschlagbare Jäger, hatte mit Bärenfellen gehandelt, die er ganz allein aus den tiefsten Tiefen der sich in den Norden erstreckenden Wälder heimbrachte. Fuchs, Biber, Wildschaf - mit all diesen Fellen handelte er, denn er war stark und hatte Glück bei der Jagd, so dass in unserer Familie niemand seiner Hände Werk verkaufen musste oder es an Nahrung fehlte. Wenn wir hungerten - und gehungert haben wir -, dann war es, weil der lange Winter die Vorräte aufzehrte und es nirgends mehr Fleisch gab, so dass mein Vater für all sein Gold nichts mehr erwerben konnte.
Der stechende Geruch Podils drang mir schon in die Nase, während ich auf dem Wehrgang stand, der Gestank nach faulendem Fisch, eingepferchtem Vieh, schmutzigen Körpern und Flussschlamm. Ich wickelte mich bis unter die Nase in den Pelzumhang und blies den Schnee fort, wo er meine Lippen berührte. Dann schaute ich zu den dunklen Kuppeln auf, die sich gegen den Nachthimmel abhoben. »Komm, wir wollen weitergehen, zur Burg des Woiwoden«, sagte ich. »Siehst du das hölzerne Bauwerk? Man w ürde das in Venedig nicht als Burg bezeichnen oder als Palast. Aber hier ist es eine Burg.« Marius nickte und machte eine beruhigende Geste. Ich war ihm keine Erklärung für diesen fremdartigen Ort schuldig, aus dem ich stammte. Der Woiwode war unser Regent, und als ich dort lebte, war das Fürst Michael von Lettland gewesen. Wer nun das Amt innehatte, wusste ich nicht. Ich war selbst ganz erstaunt, dass ich die richtige Bezeichnung kannte. Meine Traumbilder an der Schwelle zum Tode hatten keine Sprache gekannt, und das merkwürdige Wort Woiwode war nie über meine Lippen gekommen. Aber auch da hatte ich ihn ganz deutlich gesehen, mit dem runden, schwarzen Pelzhut, dem dunklen Kittel aus dickem Samt und den Stiefeln aus Filz. Ich ging voran. Wir näherten uns dem geduckt daliegenden Gebäude, das mit seinen unglaublich dicken Holzbalken eher einer Festung als etwas anderem glich. Seine Wände waren leicht abgeschrägt und die vielen Türme trugen viereckige Dächer. Ich konnte das Mitteldach sehen, eine Art fünfeckige, hölzerne Kuppel, deren Konturen sich scharf gegen den sternenübersäten Himmel abzeichneten. Fackeln loderten neben den breiten Durchgängen und entlang der äußeren Wände. Alle Fenster waren gegen die Winterkälte und die Nacht abgeschottet.
Es gab eine Zeit, da ich es für das großartigste Gebäude der gesamten Christenheit gehalten hatte.
Die Wachen mit ein paar flinken, geflüsterten Worten und Gesten in Trance zu versetzen, war ganz einfach, so dass wir an ihnen vorbei diese Feste betreten konnten.
Durch einen rückwärtigen Vorratsraum fanden wir Einlass und begaben uns leise an eine Stelle, die uns einen hervorragenden Blick auf die kleine Gruppe Adeliger und
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