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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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die Stelle, an der die Wärme nachklang, und sein Kuss war warm.

10
     
    W ir benötigten vier Nächte, bis wir Kiew erreichten. Wir jagten nur in den frühen Morgenstunden vor Sonnenaufgang, und zur Ruhe legten wir uns an echten Begräbnisstätten, in den Kerkergruften alter, verfallener Burgen und in Grabschreinen unter verlassenen, zerfallenden Kirchen, die die weltlich Denkenden nun zur Unterbringung von Vieh und Heu nutzten.
    Ich könnte eine Menge Geschichten von dieser Reise erzählen, von den kühnen Festungen, durch die wir gegen Morgen streiften, von den unzivilisierten Bergdörfern, wo wir den Übeltäter in seinem kruden Loch aufstöberten.
    Natürlich betrachtete Marius dies alles als weiteren Lehrstoff für mich, zeigte mir, wie leicht man Verstecke finden konnte, und beglückwünschte mich dazu, wie schnell ich mich durch dichte Wälder schlängeln konnte und mich nicht vor den vereinzelten primitiven Ansiedlungen fürchtete, die wir wegen meines Durstes aufsuchen mussten. Er lobte mich, weil ich nicht vor den staubigen Knochenhaufen zurückschreckte, in denen wir uns für den Tag verkrochen, und wies darauf hin, dass diese Orte, die schon geplündert worden waren, kaum von Menschen heimgesucht wurden, nicht einmal bei Tageslicht.
    Bald schon waren unsere schicken, venezianischen Kleider von Schmutz verschmiert, doch wir hatten uns für die Reise mit dicken, pelzgefütterten Mänteln versehen, die alles verhüllten. Selbst darin sah Marius eine Lektion, weil es uns daran erinnerte, wie zerbrechlich und bedeutungslos diese Ausrüstung doch ist.
    Sterbliche denken nicht darüber nach, dass sie ihre Kleidung unbeschwert tragen, dass sie nur eine Hülle für ihren Körper ist. Vampire dürfen das niemals vergessen, weil sie viel unabhängiger von Kleidern sind als Menschen.
    An dem Morgen, ehe wir Kiew erreichten, erkannte ich eindeutig die felsigen nördlichen Wälder. Der schreckliche Winter des Nordens umgab uns ringsum. Wir waren auf das gestoßen, was ich in meiner Erinnerung besonders faszinierend fand: Schnee. »Es schmerzt nicht mehr, wenn ich ihn anfasse«, staunte ich, während ich den köstlich kalten Schnee mit den Händen aufhob und an mein Gesicht presste. »Ich friere auch nicht mehr bei seinem bloßen Anblick, und jetzt sehe ich, wie schön er tatsächlich ist. Er deckt die ärmlichsten Städtchen und Flecken fürsorglich zu. Herr, sieh, sieh nur, wie er selbst das Licht der schwächsten Sterne reflektiert!«
    Wir standen an der Grenze zu dem Land, das die Menschen Goldene Horde nannten, das waren die südlichen Steppen Russlands, die schon seit zweihundert Jahren, seitdem Dschingis Khan sie erobert hatte, für die Bauern gefährlich waren, und für Armeen und Ritter oft genug den Tod bedeuteten.
    Dieses ganze fruchtbare, schöne Grasland hatte einst zu Kiew Rus dem Kiewer Reich - gehört und dehnte sich weit nach Osten und auch nach Süden von Kiew, meiner Geburtsstadt.
    »Die letzte Strecke ist gar nichts!«, erklärte mir mein Herr. »Das schaffen wir morgen Abend, und wenn du dann den ersten Blick auf deine Heimat wirfst, bist du noch ausgeruht und frisch.« Als wir von einem schroffen Felsen auf das wilde im Winterwind sich beugende Gras blickten, empfand ich zum ersten Mal, seit ich ein Vampir war, eine schreckliche Sehnsucht nach der Sonne. Ich hätte dieses Land so gern im Sonnenlicht gesehen! Ich wagte nicht, das meinem Herrn zu gestehen. Schließlich, wie viele Wohltaten kann man verlangen?
    Am Ankunftsabend erwachte ich direkt nach Sonnenuntergang. Wir hatten ein Versteck unter dem Boden einer Dorfkirche gefunden. Das Dorf war von den Bewohnern verlassen worden, als die fürchterlichen Mongolen, die in meiner Heimat immer und immer wieder Vernichtung säten, es niedergebrannt hatten, so hatte Marius mir wenigstens erzählt. Diese Kirche hatte nicht einmal mehr ein Dach. Niemand war geblieben, der die restlichen Steine zum Bauen oder zum Verkauf genutzt hätte, also waren wir eine vergessene Stiege hinabgeklettert und hatten neben den Mönchen geruht, die hier vor mehr als einem Jahrtausend begraben worden waren.
    Als ich mich aus meinem Grab erhob, erblickte ich hoch über mir ein quadratisches Stück Himmel, wo mein Herr eine marmorne Fußbodenplatte, wohl eine mit einer Inschrift versehene Grababdeckung, als Ausschlupf entfernt hatte. Ich trieb meinen Körper aufwärts, das heißt, ich beugte die Knie und stieß mich mit aller Kraft ab, so dass ich, als könnte ich fliegen,

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