Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Herren bot, die sich in der großen Halle unter der Decke aus dicken, unbearbeiteten Holzbalken um ein brüllendes Feuer scharten.
Der Raum war mit mehrfach mit übereinander liegenden, orientalischen Teppichen in leuchtenden Farben ausgelegt, auf denen die Männer in gewaltigen, typisch russischen Lehnsesseln saßen, deren geometrische Schnitzmuster für mich nichts Geheimnisvolles hatten. Sie tranken Wein aus goldenen Kelchen, der von zwei lederbekleideten Dienern ausgeschenkt wurde, und ihre langen, gegürteten, mantelartigen Gewänder waren leuchtend blau und rot und golden wie die vielfältigen Muster der Teppiche. Europäische Wandbehänge bedeckten die grob verputzten Wände. Ewig gleiche Jagdszenen in einem endlosen Wald in Frankreich oder England oder der Toskana. Auf einer langen Tafel stand zwischen flackernden Kerzen ein schlichtes Mahl aus Fleisch und Wildgeflügel. Der Raum war so kalt, dass die Herrschaften ihre russischen Fellmützen aufbehalten hatten. Wie exotisch ich es doch in meiner Kindheit gefunden hatte, wenn mein Vater mich mitgenommen hatte, um mich Fürst Michael vorzustellen! Dieser war ihm unendlich dankbar, weil mein Vater ihn in seiner Kühnheit mit dem köstlichsten Wild aus den Steppen versorgte oder wertvolles Gut gleich haufenweise zu den Verbündeten des Fürsten in die litauischen Festungen im Westen brachte.
Aber diese Männer hier waren Europäer. Ich hatte nie Respekt vor ihnen gehabt. Mein Vater hatte mir zu gründlich eingetrichtert, dass sie nur Lakaien des Khan waren, die dafür zahlten, über uns zu herrschen.
»Keiner bietet diesen Dieben die Stirn«, pflegte mein Vater zu s agen, »sollen sie doch ihre Lieder von Heldenmut und Ehre anstimmen. Es hat nichts zu sagen. Du hörst gefälligst auf meine Lieder.« Und mein Vater konnte wunderbare Lieder singen.
Denn trotz seiner kraftstrotzenden Zähigkeit auf dem Pferderücken, trotz seines Geschicks mit Pfeil und Bogen und der brutalen Gewalt, mit der er das Breitschwert handhabte, konnte er doch mit seinen langen Fingern die Saiten der alten Harfe zupfen und dazu gewandt die Balladen aus den alten Zeiten singen, als Kiew eine berühmte Hauptstadt gewesen war, und ihre Kirchen, deren Schätze alle Welt bewunderte, mit denen in Byzanz wetteiferten.
Nur wenige Momente genügten mir, und ich war bereit, wieder zu gehen. Einen letzten erinnernden Blick warf ich noch auf diese Männer, wie sie da zusammengesunken über ihren goldenen Bechern hockten. Ihre schweren, pelzgefütterten Stiefel ruhten auf verschnörkelten, türkischen Fußschemeln, ihre Schatten wurden gegen die Wand geworfen. Und dann schlüpften wir hinaus, ohne dass sie unserer Anwesenheit überhaupt gewahr geworden waren. Es war Zeit, nun den anderen, auf einem Hügel gelegenen Stadtteil aufzusuchen, Pechersk genannt, unter dem die verzweigten Katakomben des Höhlenklosters lagen. Ich bebte beim bloßen Gedanken daran. Es war, als würde mich das Maul des Klosters schlucken und ich müsste mich auf der Suche nach dem Sternenlicht auf ewig durchs feuchte Erdreich graben, ohne einen Ausgang zu finden.
Trotzdem machte ich mich auf den Weg, schleppte mich durch Matsch und Schnee und erlangte abermals mit vampirischer Geschmeidigkeit Zutritt, war nun derjenige, der voranging und die Schlösser mit meinen überlegenen Kräften leise, leise aufspringen ließ. Dabei hob ich die Türen an, wenn ich sie öffnete, damit das Gewicht nicht auf ihren knarrenden Angeln lastete. Wir huschten so schnell durch die Räume, dass ein sterbliches Auge nur einen eisigen Schatten wahrnehmen konnte, wenn es überhaupt etwas wahrnahm. Die Luft war, welch ein Segen, warm und still, doch mein Gedächtnis sagte mir, dass ein sterblicher Knabe es nicht so warm empfunden hatte. Im Skriptorium saßen einige Brüder beim rauchigen Licht billiger Öllampen über ihre abgeschrägten Pulte gebeugt und arbeiteten an Kopien von Schriften, als wäre für sie die Druckerpresse nie errunden worden - und sicherlich war es auch so.
Ich konnte die Texte erkennen, an denen sie arbeiteten, und sie waren mir vertraut - das Paterikon, das Buch der Stammväter des Kiewer Höhlenklosters, mit seinen wundersamen Geschichten über die Gründer des Klosters und das farbenprächtig geschilderte Leben seiner Heiligen. In diesem Raum hatte ich, angestrengt über den Texten brütend. Lesen und Schreiben gelernt. Nun schlich ich an der Wand entlang, bis ich einen Blick auf die Seite erhaschte, die ein Mönch gerade
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