Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
abschrieb, indem er mit der linken Hand die vom Alter mürbe Vorlage flachdrückte.
Ich kannte diesen Teil des Paterikons auswendig. Es war die Geschichte von Vater Isaak. Böse Geister hatten ihn irregerührt. Sie waren ihm als wunderschöne Engel erschienen, hatten sogar vorgegeben, Christus selbst zu sein, und als Isaak auf ihre Tricks hereingefallen war, hatten sie vor Schadenfreude getanzt und ihn gequält und verspottet. Doch nach langem Meditieren und Büßen konnte Isaak sich mutig den Dämonen entgegenstellen.
Der Mönch hatte gerade die Feder eingetaucht und schrieb nun die Worte des Isaak:
»Als ihr mir hinterlistig in der Gestalt Jesu Christi erschient, wart ihr dieses Standes nicht würdig. Doch nun erscheint ihr in eurer wahren Gestalt -«
Ich schaute fort. Ich las den übrigen Text nicht. So gegen die Wand geschmiegt, hätte ich auf ewig ungesehen bleiben können. Langsam wanderten meine Augen zu den Blättern, die der Mönch schon fertig und zum Trocknen zur Seite gelegt hatte. Ich fand eine frühere Passage, die ich nie vergessen hatte. Sie beschreibt Isaak, wie er sich niedergelegt und zwei Jahre lang zurückgezogen von der Welt, bewegungslos und ohne Nahrung zugebracht hat.
»Aber Isaak war geschwächt an Körper und Geist und konnte sich nicht mehr umdrehen, aufstehen oder aufsetzen. Er lag auf der Seite, und häufig nährten sich Würmer unter seinen Schenkeln von seinen Exkrementen und seinem Urin.
Die Dämonen mit ihren Sinnestäuschungen hatten Isaak so weit gebracht. All dies, Versuchungen, Visionen, Verwirrung und Buße hatte ich selbst für den Rest meines Lebens zu erfahren gehofft, als ich dieses Gewölbe als Kind betrat.
Ich lauschte der Feder, die übers Papier kratzte. Ich zog mich ungesehen zurück, als wäre ich nie da gewesen. Ich sah mich noch einmal nach meinen gelehrten Brüdern um.
Alle waren ausgezehrt, trugen billige, schwarze Wolle und stanken nach abgestandenem Schweiß und Schmutz, und ihre Köpfe waren beinahe kahl geschoren. Die langen, spärlichen Barte waren ungekämmt.
Ich glaubte einen von ihnen zu erkennen, hatte ihn vielleicht sogar einmal irgendwie geliebt, doch das schien mir weit weg und keines Gedankens mehr wert zu sein.
Marius, der wie ein treuer Schatten neben mir ausgeharrt hatte, vertraute ich an, dass ich es nicht durchgehalten hätte, aber wir beide wussten, dass das eine Lüge war. Mit höchster Wahrscheinlichkeit hätte ich es durchgehalten und wäre gestorben, ohne je eine andere Welt kennen gelernt zu haben.
Ich glitt in den ersten der langen Tunnel, in denen die Mönche eingegraben waren, und mit geschlossenen Augen an die Lehmwand geschmiegt, lauschte ich den Träumen und Gebeten jener, die hier lebendig begraben lagen, um der Liebe Gottes willen.
Es war nicht anders, als ich es mir vorgestellt hatte, und genauso, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich hörte die vertrauten, nicht länger geheimnisvollen Worte, die sie in Kirchenslawisch vor sich hin flüsterten. Ich sah die vorgeschriebenen Bilder. Ich spürte echte Hingabe und Mystizismus, doch nur als flackerndes Flämmchen, das der Funke eines Lebens in gänzlicher Entsagung gerade noch entfachen konnte.
Ich senkte den Kopf und lehnte die Schläfe gegen die lehmige Erde. Ich suchte nach dem Knaben, der so reinen Herzens gewesen war, als er damals die Zellen freilegte, um den Eremiten gerade so viel Nahrung und Wasser zu reichen, dass sie am Leben blieben. Aber ich konnte ihn nicht finden. Nirgends. Und ich fühlte nur ein wütendes Mitleid mit ihm, weil er hier gelitten hatte, dünn, elend und verzweifelt, wie er war, und unwissend, ach, so schrecklich unwissend, dass er nur eine sinnliche Freude in seinem jungen Leben kannte, und die war, wenn die Farben der Ikonen wie lebendig aufglühten.
Ich rang nach Luft. Ich wandte mich ab und ließ mich, war es auch dumm von mir, in Marius’ Arme fallen.
»Weine nicht, Amadeo«, flüsterte er mir zärtlich ins Ohr. Dann schob er mir die Haare aus dem Gesicht und wischte mir mit seinen sanften Daumen sogar die Tränen fort.
»Sage dem allen hier Lebewohl, Sohn«, sagte er dabei.
Ich nickte.
Im Handumdrehen standen wir wieder draußen. Ich schwieg. Marius folgte mir, als ich den Hang hinabhastete, der Siedlung am Wasser entgegen.
Der Geruch des Flusses nahm zu, wie auch der durchdringende Geruch nach Menschen, und schließlich kamen wir zu dem Haus, das ich als mein eigenes erkannte. Mir schien das alles plötzlich Wahnsinn zu sein! Wonach
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