Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
der die jungen Vampire vernichtete.«
»Ich wüsste nicht, dass er je jemanden vernichtet hätte, außer den Übeltätern«, flüsterte ich.
»Wir sind aber doch Übeltäter, nicht wahr? Wir alle. Also vernichtete er uns ohne Reue. Er dachte, er wäre vor uns sicher. Er wollte nichts mit uns zu tun haben! Er fand, dass wir seiner Aufmerksamkeit nicht wert waren, und nun schau, wie er einen Jüngling mit seiner ganzen Kraft überhäuft hat! Aber ich muss zugeben, dass du ein sehr schöner junger Mann bist.«
Ein kleines Geräusch, ein fieses Rascheln, nicht ganz fremd. Ich roch Ratten. »Ach, ja, meine Kinder, die Ratten«, sagte er. »Sie kommen zu mir. Willst du sehen? Dreh dich um, und schau mich an, bitte. Denk nicht mehr an den heiligen Franziskus, mit seinen Vögeln und Eichhörnchen und dem Wolf an seiner Seite. Denk an Santino mit seinen Ratten.«
Ich sah wirklich hin. Ich hielt den Atem an. Ich setzte mich auf und gaffte. Eine große, graue Ratte saß auf seiner Schulter, die kleine Schnauze mit den Schnurrhaaren kitzelte sein Ohr, der Schwanz kringelte sich hinter seinem Kopf. Eine weitere Ratte war gekommen und saß friedlich, wie verzaubert, in seinem Schoß. Mehrere andere hatten sich zu seinen Füßen versammelt. Vorsichtig, jede heftige Bewegung meidend, tauchte er die rechte Hand in eine Schale mit Brotkrumen. Ich roch sie erst jetzt, vermischt mit dem Geruch der Ratten. Er hielt die mit Krumen gefüllte Hand der Ratte auf seiner Schulter hin, die dankbar und seltsam zierlich davon fraß, dann ließ er weitere Krümel in seinen Schoß fallen, und gleich drei Ratten kamen zum Schmaus.
»Denkst du etwa, ich mag das?«, fragte er. Er schenkte mir einen intensiven Blick, seine Augen weiteten sich, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Das schwarze Haar lag in dichtem Wirrwarr wie ein Schleier um seine Schultern, seine Stirn war sehr glatt und glänzte im Kerzenlicht.
»Glaubst du, ich lebe gern im Bauch der Erde?«, fragte er betrübt, »unter der großen Stadt Rom, wo durch die Erde der Abfall der stinkenden Pfühle sickert? Glaubst du, es macht mir Vergnügen, diese Ratten als einzige Vertraute zu haben? Glaubst du, ich wäre nie aus Fleisch und Blut gewesen, oder dass ich nach dieser Umwandlung, die mich in den Dienst des Allmächtigen und Seines Göttlichen Planes gestellt hat, keine Sehnsucht nach jenem Leben gehabt hätte, das du mit deinem gierigen Herrn geführt hast? Habe ich keine Augen, um die leuchtenden Farben zu sehen, die dein Herr auf seine Leinwand auftrug? Meinst du, mir gefiele der Klang gottloser Musik nicht?« Er seufzte, tief und schmerzlich.
»Hat Gott je etwas gemacht, das in sich ekelhart ist?«, fuhr er fort. »Die Sünde an sich ist nicht abstoßend, das zu denken wäre widersinnig. Niemanden kann man dazu bringen, Schmerz zu lieben. Wir können nur hoffen, ihn zu ertragen.«
»Was soll das alles?«, fragte ich. Mir war übel bis zum Erbrechen, aber ich beherrschte mich. Ich atmete ein, so tief ich konnte, und ließ die Gerüche dieser Schreckenskammer in meine Lungen dringen, damit sie mich nicht mehr quälten.
Ich lehnte mich mit gekreuzten Beinen zurück und betrachtete den Schwarzhaarigen eingehend. Ich rieb mir die Asche aus den Augen. »Warum das alles? Die ganze Thematik ist mir nicht fremd, aber was soll dieses Reich der Vampire in schwarzen Mönchskutten?«
»Wir sind die Verteidiger der Wahrheit«, sagte er offen. »Und? Wer ist nicht der Schützer der Wahrheit, um der Liebe Gottes willen?«, sagte ich erbittert. »Schau, das Blut deiner Brüder in Christi klebt an meinen Händen! Und du sitzt da, eine monströse, vom Blut aufgeblasene Imitation eines Menschen, und starrst alles an, als ginge es nur um Geplauder im Kerzenschein!«
»Ach, du hast eine scharfe Zunge für jemanden mit einem so lieblichen Gesicht«, sagte er mit kühlem Staunen in der Stimme. »Du wirkst so gefällig mit deinen weichen, braunen Augen und dem herbstlaubroten Haar, aber du bist intelligent.«
»Intelligent? Ihr habt meinen Herrn verbrannt! Ihr habt ihn vernichtet! Ihr habt seine Kinder dem Feuer übergeben. Ich bin euer Gefangener hier, oder etwa nicht? Und wozu? Und du redest mir von unserem HERRN Jesus Christus? Du? Du? Gib Antwort! Was ist das für ein Morast aus Dreck und Einbildung, aus Lehm und geweihten Kerzen?« Er lachte. In seinen Augenwinkeln bildeten sich kleine Fältchen. Seine Miene war fröhlich und freundlich. Sein Haar schimmerte trotz Schmutz und Filz in
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