Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
war fast nichts mehr von ihr zu sehen. Aber sie wandte den Kopf, und das verdämmernde Licht ihrer Augen heftete sich auf mich. Dann verschwand sie gänzlich, ohne ein Geräusch. Ich sank zurück und breitete mit einer Geste unendlicher Verzweiflung die Arme aus. Meine Hand fiel auf den noch warmen Leichnam des Kindes.
Ich sah nicht immer den Geist meines Opfers.
Ich gab mir auch keine Mühe, diese Fähigkeit zu beherrschen. Ich empfand sie nicht als Freunde, diese Geister, die sich hin und wieder an dem Schauplatz meines blutigen Tötens einfanden, sondern als einen weiteren zusätzlichen Fluch. Im Augenblick meines Elends, wenn das Blut heiß in mir siedete, huschten sie vorbei, und in ihren Zügen fand ich keinen Hoffnungsschimmer, noch umgab sie das helle Licht der Zuversicht. Hatte mein langes Hungern diese Fähigkeit bewirkt?
Ich sprach zu niemandem davon. In dieser verdammten Zelle, diesem fluchbeladenen Ort, an dem meine Seele gebrochen wurde, Woche um Woche stärker, ohne dass ich auch nur die tröstliche Umhüllung eines Sarges gehabt hätte, fürchtete ich die Fähigkeit und begann sie schließlich zu hassen.
Erst in der fernen Zukunft erfuhr ich, dass die anderen Vampire die Geister ihrer Opfer normalerweise nicht sehen. War das eine Gnade? Ich wusste es nicht. Aber ich greife vor.
Zurück zu dieser unerträglichen Zeit, zu dieser Feuerprobe. Ungefähr zwanzig Wochen waren in diesem Elend vergangen. Ich glaubte nicht einmal mehr, dass es die helle, fantasievolle Welt Venedigs je gegeben hatte. Aber ich wusste, dass mein Herr tot war. Das wusste ich. Ich wusste, dass alles, was ich geliebt hatte, tot war. Ich war tot. Manchmal träumte ich, dass ich daheim in Kiew wäre, im Höhlenkloster eingeschlossen, ein Heiliger. Dann erwachte ich, und meine Lage wurde mir qualvoll bewusst.
Als Santino und die grauhaarige Allesandra schließlich zu mir kamen, waren sie freundlich wie immer, und Santino vergoss Tränen, als er mich in diesem Zustand sah. Er sagte: »Komm, komm nun zu mir, lass uns ernstlich lernen, komm. Nicht einmal so erbärmliche Kreaturen wie wir sollten derart leiden. Komm her zu mir.«
Ich vertraute mich seinen Armen an, ich öffnete ihm meine Lippen, ich senkte den Kopf und drückte mein Gesicht an seine Brust, und während ich seinen Herzschlägen lauschte, atmete ich tief ein, als wäre mir bis zu diesem Moment selbst die Atemluft versagt gewesen. Allesandra streichelte mich sanft mit ihrer kühlen, weichen Hand und sagte:
»Du armes, verwaistes Kind, einen so langen Weg musstest du umherirrend zurücklegen, um endlich zu uns zu kommen.« Und war es nicht ein Wunder, dass alles, was sie mir angetan hatten, nichts anderes mehr zu sein schien als ein ganz gewöhnliches, unvermeidliches Verhängnis? Und sie teilten es mit mir.
Santinos Zelle.
Ich lag am Boden, in Allesandras Arme geschmiegt, die mich wiegte und mir über das Haar strich.
»Ich möchte, dass du heute Nacht mit uns auf die Jagd gehst«, sagte Santino. »Du gehst mit uns beiden, mit Allesandra und mir. Wir lassen nicht zu, dass die anderen dich quälen. Du bist hungrig. Du bist schrecklich hungrig, nicht wahr?«
Und so trat ich mein Amt bei den Kindern der Finsternis an. Jede Nacht jagte ich in tiefem Schweigen mit meinen neuen Gefährten, meinen Lieben, meiner neuen Herrschaft, und schließlich war ich ernsthaft bereit, eine neue Lehrzeit zu beginnen, und Santino, mein Lehrer, zeitweise unterstützt von Allesandra, übernahm mich persönlich als seinen Studenten, was in unserem Orden eine große Ehre bedeutete, wie mir die anderen Vampire bei der nächsten passenden Gelegenheit unter die Nase rieben.
Was ich lernte - die großen Gesetze -, hat Lestat auf Grund meiner Enthüllungen schon einmal niedergeschrieben.
Erstens, dass wir uns auf der ganzen Welt in Ordenshäusern zusammenschlossen, dass jeder Orden seinen Anführer hatte, und dass ich bestimmt war, ein solcher Anführer zu werden, in etwa wie der Abt eines Klosters. Alle Amtsgewalt lag in meiner Hand. Ich und nur ich würde entscheiden, wann ein neuer Vampir geschaffen wurde, der sich uns anschließen sollte, und ich, ich allein, würde Sorge tragen, dass die Umwandlung auch auf die gehörige Art vollzogen wurde. Zweitens, dass die Gabe der Finsternis, so nannten wir es nämlich, nur an schöne Menschen weitergereicht werden durfte, denn die Schönen an das Blut der Finsternis zu ketten war dem Gerechten Gott wohlgefälliger.
Drittens, dass niemals ein ganz
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