Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
heimgekommen wäre.
Heim. Bestimmt ist es so gewesen, dass ich hatte vergessen wollen, wer ich war. Es muss so gewesen sein. Die Scham muss mich dazu gezwungen haben. Doch in jenem Moment, in diesem zelt-artigen Raum mit dem blumengemusterten Teppich, inmitten der Kaufleute und Sklavenhändler, mühte ich mich um Erinnerung, als wenn ich, fände ich nur eine Landkarte in meinem Geiste, dieser Karte folgen und so hier herauskommen und zurückgehen konnte, dorthin, wohin ich gehörte.
Ich konnte mich an grasbewachsene Weiten erinnern, an wilde Landstriche, in die man nicht vordrang, außer - doch da war ein blinder Fleck. Ich war in dieser grasigen Ebene gewesen, und zwar nicht gegen meinen Willen. Ich hatte dem Schicksal die Stirn bieten wollen. Ich hatte etwas ungeheuer Wichtiges bei mir getragen. Ich war von meinem Pferd gesprungen, hatte das Bündel von dem ledernen Halfter losgerissen und war gerannt, das Bündel fest gegen meine Brust gepresst.
»Hinüber zu den Bäumen!«, hatte er gerufen. Nur, wer war »er«? Immerhin wusste ich, was er damit gemeint hafte, nämlich dass ich den kleinen Hain erreichen und diesen Schatz dort verstecken musste, dieses herrliche, Wunder wirkende Ding in dem Bündel, das »nicht von Menschenhand gemacht« war. Ich erreichte den Hain nicht. Als sie mich packten, ließ ich das Bündel fallen, und sie kümmerten sich nicht einmal darum, zumindest sah ich nichts davon. Während ich hochgehoben wurde, dachte ich: Hier wird man es nicht finden, so wie es da liegt, nur in ein Tuch gewickelt. Man muss es zwischen den Bäumen verstecken.
Auf dem Schiff müssen sie mir Gewalt angetan haben, ich kann mich nämlich an nichts mehr erinnern, nicht daran, wie ich nach Konstantinopel kam, nicht an Hunger oder Kälte, nicht daran, dass ich außer mir gewesen wäre oder verängstigt. Aber jetzt, hier, konnte ich mich zum ersten Mal an die Einzelheiten dieser Vergewaltigung erinnern, an stinkendes Fett, an Gezanke und an Flüche, weil das zarte Lamm beschmutzt war. Eine grauenvolle, unerträgliche Machtlosigkeit schwelte in mir. Abscheuliche Männer. Widernatürliche Männer, Männer, die Gottes Gebot trotzten.
Ich wandte mich dem Händler mit dem Turban zu und stieß ein Grollen hervor wie ein Tier. Er verpasste mir eine so heftige Ohrfeige, dass ich zu Boden fiel. Ich lag reglos und schaute mit aller Verachtung, die ich in meinen Blick legen konnte, zu ihm auf. Ich stand nicht wieder auf, selbst als er mich trat. Ich sprach auch nicht. Er warf mich über seine Schulter und trug mich hinaus, über einen belebten Hof, an merkwürdigen, stinkenden Kamelen, an Eseln und Abfallhaufen vorbei, hinaus zum Hafen, wo die Schiffe wartend vor Anker lagen, über eine Planke und hinein in den Schiffsbauch. Und wieder nur Unrat-, der Geruch nach Hanf, das Rascheln von Schiffsratten. Der Mann warf mich auf einen Ballen aus rauem Stoff. Wieder suchte ich nach einem Fluchtweg, sah aber nur die Leiter, die wir hinabgeklettert waren, und hörte von oben die Stimmen einer großen Anzahl Männer - zu viele auf jeden Fall. Es war noch dunkel, als das Schiff sich in Bewegung setzte. Innerhalb einer Stunde war mir so übel, dass ich nur noch sterben wollte. Ich rollte mich am Boden zusammen und lag so still, wie es nur eben ging. Dabei verkroch ich mich ganz unter dem weichen, schmiegsamen Stoff der abgenutzten Tunika. Ich schlief fast nur.
Als ich aufwachte, war ein alter Mann bei mir. Er trug eine andere Art Kleidung, die mich nicht so erschreckte wie die der Türken mit ihren Turbanen, und seine Augen blickten freundlich. Er beugte sich zu mir herunter. Er sprach eine Sprache, die neu für mich war. Sie klang ungewöhnlich lieblich und weich, doch verstehen konnte ich ihn nicht. Jemand sagte zu ihm auf Griechisch, dass ich stumm sei und ohne Verstand und wie ein Tier knurrte.
Eigentlich wäre hier abermals ein Lachen fällig gewesen, mir war jedoch zu übel.
Der Grieche erzählte dem Alten auch, dass man mich nicht zerschunden oder verletzt hätte. Man erwartete einen hohen Preis für mich. Der Alte machte eine abweisende Geste, während er den Kopf schüttelte und in dieser neuen, melodischen Sprache etwas sagte. Dann griff er nach mir, brachte mich mit sanften, schmeichelnden Worten auf die Füße und führte mich durch einen Gang in eine kleine Kammer, die ganz mit roter Seide ausgeschlagen war. Den Rest der Reise verbrachte ich in dieser Kammer, von einer Nacht abgesehen. In dieser einen Nacht - zu welchem
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