Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
mit Feuereifer, jede Linie, jede Farbschicht harmonisch verschmelzend, endgültig und unabänderlich.
Ach, mein Inneres ist in Aufruhr, und ich verzage vor meinen Erinnerungen.
Wo soll ich beginnen? An welchem Ort?
Konstantinopel, gerade erst den Türken zugefallen - damit meine ich, es gehörte erst seit knapp einhundert Jahren den Moslems, als man mich dorthin brachte, einen Sklavenjungen, gefangen genommen in einer wüsten Gegend seines Heimatlandes, von dem er kaum den Namen kannte: das Reich der Goldenen Horde.
Längst war mein Gedächtnis erloschen, zusammen mit meinem Sprachvermögen oder jeglicher anderen Fähigkeiten, folgerichtig und logisch zu denken. Ich kann mich an die erbärmlichen Räume erinnern - das muss in Konstantinopel gewesen sein, denn ich hörte Leute miteinander reden, und zum ersten Mal, seit ich von ich-hattevergessen-wo verschleppt worden war, konnte ich verstehen, was sie sagten.
Sie sprachen natürlich griechisch, diese Händler, die mit Sklaven für die Bordelle Europas handelten. Sie kannten keinerlei Gehorsam gegenüber einer Religion - dem Einzigen, was ich kannte, der ich ansonsten so Mitleid erregend unwissend war.
Man stieß mich auf einen dicken orientalischen Teppich nieder, dessen dichten, farbenfreudig gemusterten Flor man sonst auf Palastböden fand. Hier diente er dazu, teuer gehandelte Waren zur Schau zu stellen. Mein Haar war feucht und hing lang herab, jemand hatte es so heftig gebürstet, dass es geschmerzt hatte. Wenn ich irgendwelche persönliche Habe besessen hatte, hatte man sie mir genommen, samt der Erinnerung daran. Ich trug ein gebrauchtes, lose fallendes Kleidungsstück aus Goldstoff, darunter war ich nackt. Im Zimmer war es heiß und feucht. Ich war hungrig, aber auf Essen zu hoffen war vergebens, doch wusste ich, dass das kneifende Hungergefühl von allein wieder vergehen würde. Das lose Gewand mit den weit fallenden Ärmeln, das mir bis zu den Knien reichte, muss mir eine abgenutzte Herrlichkeit verliehen haben, den Glanz eines gefallenen Engels.
Als ich mich auf die Füße stellte, die natürlich ebenfalls nackt waren, erblickte ich diese Männer, und augenblicklich war mir klar, was sie wollten, und dass das lasterhaft war und verachtenswert, und dass der Preis dafür die Hölle war. Verwünschungen aus dem Munde vergessener Oberhäupter echoten in mir: zu hübsch, zu weich, Augen, aus denen der Teufel schaute, und, ah, dieses Lächeln, ein Geschenk des Teufels.
Wie vertieft diese Männer in ihre Streiterei, ihre Feilscherei waren! Wie sie mich musterten, ohne mir nur einmal in die Augen zu sehen … Plötzlich lachte ich auf. Alles ging so schnell hier! Die Leute, die mich hergebracht hatten, waren schon wieder fort. Die, die mich abgeschrubbt hatten, waren bei ihren Badezubern geblieben. Ich war nur ein Bündel, das man auf den Teppich geworfen hatte. Für eine Sekunde blitzte das Erkennnen in mir auf, dass mein altes Selbst scharfzüngig und zynisch gewesen war und sich der männlichen Natur im Allgemeinen deutlich bewusst. Ich lachte, weil diese Händler dachten, ich wäre ein Mädchen.
Ich wartete und lauschte, fing ein paar Gesprächsfetzen auf. Wir befanden uns in einem großen Raum, dessen Decke aus einem tief hängenden Seidenbaldachin bestand, auf den kleine Spiegel und verschnörkelte Muster aufgestickt waren, wie die Türken sie lieben. Und die Lampen waren zwar verräuchert, aber mit Duftöl gefüllt, und schwängerten die Luft mit einem düsteren, rußigen Nebel, der mir in den Augen brannte.
Die Männer, mit Turban und Kaftan angetan, waren mir nicht weniger vertraut als ihre Sprache, doch ich schnappte nur Satzfetzen von dem auf, was sie sagten. Meine Augen suchten nach einem Fluchtweg. Es gab keinen. Nahe dem Eingang lümmelten schwer gebaute, vor sich hin brütende Männer. Etwas weiter weg, an einem Pult, saß ein Mann, der mit einem Abakus rechnete. Vor ihm lagen mehrere Häufchen Goldmünzen.
Einer der Männer, groß und hager, mit fauligen Zähnen, schien nur aus Wangenknochen und Kiefer zu bestehen. Er näherte sich mir und betastete meine Schultern und meinen Hals. Dann hob er mein Gewand hoch. Ich stand stocksteif, nicht wütend oder verängstigt, sondern wie gelähmt. Dies war das Land der Türken, und ich wusste, was sie mit Knaben taten. Allerdings hatte ich nie ein Bild gesehen oder eine wahre Begebenheit erzählen hören oder hatte jemanden gekannt, der wirklich hier gelebt, das Land durchmessen hatte und wieder
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