Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Zeitpunkt der Reise das war, kann ich nicht sagen - erwachte ich und entdeckte, dass er eingeschlafen war, der alte Mann, der mich nie anrührte, außer um mich zu tätscheln oder zu trösten. Also ging ich hinaus, über die Leiter hinauf an Deck, wo ich lange Zeit stand und zu den Sternen aufschaute.
Wir lagen im Hafen einer Stadt vor Anker, von der man dunkle, bläulich schwarze Gebäude mit gewölbten Dächern sehen konnte. Glockentürme waren über die Klippen hinweg bis hinab zum Hafen verstreut, wo unter den mit Ornamenten verzierten Bögen einer Arkade Fackeln ihr Licht verströmten.
Das alles, dieses zivilisierte Gestade, sah verlockend aus, doch ich nahm nicht an, dass ich von Bord in die Freiheit springen konnte. Männer spazierten unter den Arkaden, und unter einem der Bögen, unmittelbar vor mir, stand ein Wachposten in einer merkwürdigen Tracht und einem glänzenden Helm. Ein großes, breites Schwert baumelte an seiner Hüfte. Er stand direkt vor der sich oben verästelnden Säule, die so wunderbar gearbeitet war, dass es a ussah, als bilde ein Baum den stützenden Halt für den Bogengang. Wie die Überreste eines Palastes wirkte es, in die man gefühllos einen Schiffsweg gegraben hatte.
Nach diesem ersten, langen, denkwürdigen Blick beachtete ich das Ufer kaum noch. Ich hob die Augen zum Firmament, zu diesem Reich der Sagengestalten, die auf ewig an die allmächtigen, undeutbaren Sterne gebunden waren. Der Nachthimmel jenseits war tintenschwarz, und die Sterne selbst so juwelengleich, dass mir alte Verse wieder einfielen, ja sogar die Melodie von Chorälen, von Männerkehlen intoniert.
Wenn ich mich recht erinnere, vergingen Stunden, bis man mich wieder einfing. Bevor man mich zurück in mein Gefängnis schleppte, bekam ich eine gewaltige Tracht Prügel mit einem Lederriemen. Als der Alte mich sah, wusste ich, sie würden aufhören, mich zu schlagen, denn er bebte vor Wut. Er zog mich an sich, und wir legten uns wieder nieder. Um mehr von mir zu fordern, war er einfach zu alt. Ich liebte ihn nicht. Dem vernunftlosen Stummen - das war ich -war klar, dass dieser Mann ihn als eine wertvolle Ware ansah, die bis zum Verkauf gut behütet werden musste. Aber ich brauchte ihn, und er trocknete meine Tränen. Ich schlief, sooft ich konnte. Immer, wenn das Meer rau wurde, litt ich unter Übelkeit. Manchmal machte mich schon allein die Hitze krank. Richtige Hitze hatte ich bis dahin gar nicht gekannt. Der Alte gab mir so viel zu essen, dass ich mir manchmal vorkam, als sei ich ein gemästetes Kalb, das bald zum Schlachten verkauft werden sollte.
Wir erreichten Venedig spät an einem Nachmittag. Ich hatte keine Ahnung von der Schönheit Italiens. Durch meine Gefangenschaft in dieser verrußten Höhle mit meinem alten Wächter war ich davon ausgeschlossen gewesen. Als ich nun in die Stadt gebracht wurde, sah ich bald, dass mein Verdacht hinsichtlich des Alten der Wahrheit entsprach.
In einem düsteren Zimmer stritt er sich wütend mit einem anderen Mann herum. Nichts konnte mich zum Sprechen bringen, nichts konnte mich dazu bringen, zu zeigen, dass ich verstand, was mit mir geschah. Doch ich verstand nur zu gut. Geld wechselte den Besitzer. Der Alte ging fort, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Sie versuchten, mich seltsame Dinge zu lehren. Um mich brandete die weiche, schmeichelnde Sprache. Knaben kamen, setzten sich neben mich, versuchten mich mit zarten Küssen und Umarmungen zu überreden. Sie kniffen mir in die Brustwarzen und versuchten, mich an intimsten Stellen zu berühren, Stellen, die man - so hatte ich es einst gelernt - nicht einmal betrachtete, w eil sie zu schrecklichsten Sünden verleiteten.
Mehrmals suchte ich mein Heil im Gebet. Doch ich stellte fest, dass ich die Worte vergessen hatte, und selbst die Bilder in meinem Kopf waren undeutlich. In mir war ein Licht erloschen, dass mich bislang durch all meine Lebensjahre begleitet hatte. Und jedes Mal, wenn ich in Nachdenken versank, schlug mich jemand oder zog mir an den Haaren.
Immer, wenn sie mich geschlagen hatten, kamen sie anschließend mit Salben und behandelten sorglich die abgeschürfte Haut. Einmal, als ein Mann mir ins Gesicht schlug, schrie ihn ein anderer an und umklammerte die erhobene Hand, ehe sie einen zweiten Schlag rühren konnte.
Ich verweigerte Essen und Trinken. Sie konnten mich nicht zwingen, etwas zu mir zu nehmen. Ich konnte auch gar nichts essen. Ich hafte nicht den Vorsatz zu verhungern. Ich war einfach nicht mehr
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