Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
weiß, kann ich doch nichts tun, um ihn aus seinem eisigen, starren Schlummer zu wecken.
Aber eins nach dem anderen. Was nutzt es, wieder in die Kapelle hinunterzugehen und ihm abermals meine Hände aufzulegen und ihn zu bitten, mir zuzuhören, wenn er doch da liegt, als hätten ihn alle Sinne unwiderruflich verlassen?
Ich kann es so nicht hinnehmen. Ich will nicht. Ich habe die Geduld verloren; ich habe diese Taubheit verloren, die sonst mein Trost war. Ich finde diesen Augenblick unerträglich –
Ich muss dir unbedingt sagen, was geschah, als ich das Schweißtuch sah, als die Sonne auf mich fiel, und, noch schlimmer für mich, was ich sah, als ich schließlich bei Lestat war und so nahe an ihn herankam, dass ich sein Blut trinken konnte.
Ja, jetzt nicht abweichen! Ich weiß jetzt, warum er immer diese Kettenglieder aneinander fügt. Es ist nicht aus Hochmut. Es ist eine Notwendigkeit. Man kann nicht erzählen, wenn sich die einzelnen Glieder der Geschichte nicht verbinden, und wir armen, verwaisten Kinder der tickenden Zeit kennen kein anderes Maß als das des zeitlichen Ablaufs. Hinab in die verschneite Dunkelheit stürzend, in eine Welt, schlimmer als das blanke Nichts, streckte ich die Hand aus nach einer Kette, war es nicht so? O Gott, was hätte ich bei diesem schrecklichen Absturz darum gegeben, eine solide Kette aus Metall fassen zu können!
Er kam ganz plötzlich zurück - zu dir und Dora und mir. Es war am dritten Morgen, nicht lange vor Sonnenaufgang. Ich hörte unten in dem gläsernen Hochhausturm die Tür schlagen, und dann folgte der Klang, dieser Klang, dessen unheimliche Lautstärke mit jedem Jahr zunimmt, der Schlag seines Herzens.
Wer stand als Erster vom Tisch auf? Ich war starr vor Furcht. Er kam zu schnell, und dann waren da diese wilden Düfte, die um ihn herum wehten, nach Wäldern und bloßer Erde … Er krachte durch sämtliche Hindernisse, als ob ihm jemand auf den Fersen wäre - der, der ihn weggeholt hatte -, aber keiner folgte ihm. Er war allein, knallte die Wohnungstür hinter sich zu und stand dann vor uns, erschreckender anzusehen, als ich mir je vorgestellt hatte, so zerschlagen, wie ich ihn nie zuvor nach seinen kleinen Rückzugsgefechten gesehen hatte. Dora rannte ihm voller Liebe entgegen, und in verzweifelter Bedrängnis, die nur zu menschlich war, klammerte er sich an sie, dass ich dachte, er würde sie zerquetschen.
»Du bist hier sicher, mein Liebling!«, rief sie eifrig, damit es ihm auch ganz klar wurde.
Aber wir brauchten ihn nur anzusehen, um zu wissen, dass die Sache damit nicht vorbei war.
18
E r war dem Mahlstrom entkommen. Einen Schuh trug er noch, sein anderer Fuß war bloß, sein Jackett war zerrissen, und in seinem wirren, verfilzten Haar klebten Dornen und welkes Laub und Blütenblättchen.
In den Armen hielt er ein flaches Päckchen, ein gefaltetes Tuch, das er fest an seine Brust gepresst hielt, als wäre das Schicksal der ganzen Welt darauf eingestickt.
Aber das Schlimmste, der allergrößte Schrecken war, dass man ihm einen Augapfel ausgerissen hatte, und in seinem schönen Gesicht pochte und bebte die Augenhöhle unter dem Lid, das sich unbedingt schließen wollte, als ob es sich weigerte, diese grausige Entstellung des Körpers zu akzeptieren, der doch durch das Vampirblut für alle Zeiten in Vollkommenheit erstarren sollte, als er unsterblich wurde. Ich wollte Lestat in meine Arme schließen, wollte ihn trösten, wollte ihm sagen, dass er nun sicher war, wo er auch herkam und was auch geschehen war, aber nichts konnte ihn beruhigen.
Tiefste Erschöpfung bewahrte uns alle vor der unvermeidlichen Erzählung. Wir mussten uns in unsere dunklen Schlupfwinkel zurückziehen, der stechenden Sonne entkommen, wir mussten warten, bis er am kommenden Abend wieder zu uns herauskäme und uns sagen würde, was passiert war. Er lehnte jede Hilfe ab. Immer noch das Bündel fest im Arm, schloss er sich mit seiner Verletzung ein. Ich hatte keine Wahl, ich musste ihn verlassen.
Als ich an jenem Morgen an meinem eigenen Schlafplatz niedersank, sicher bewahrt in moderner, sauberer Dunkelheit, konnte ich gar nicht mehr aufhören zu weinen, weil er so schrecklich ausgesehen hatte. Ach, warum war ich ihm nur zu Hilfe geeilt? Warum musste ich ihn so erniedrigt sehen, nachdem es mich so viele schmerzliche Jahre gekostet hatte, meine lebenslange Liebe zu ihm aufzubauen? Schon einmal, vor hundert Jahren, war er zu mir gekommen, taumelte er auf der Spur seiner
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