Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Gesicht in die Luft gereckt, schien sie nichts anderes im Sinn zu haben, als die Tasten anzuschlagen und den Kurs ihrer Hände auszurechnen, die von rechts nach links flogen und nie die Kontrolle über diesen Tonsturm verloren.
Hinter ihren geschlossenen Lippen drang ein leises Summen hervor, ein murmelndes Summen genau im Takt der Melodie, die aus den Tasten aufstieg. Sie bog den Rücken und senkte den Kopf, so dass ihr das Haar über die dahineilenden Hände fiel, und spielte und spielte, steigerte sich in donnerndes Getöse, in Gewissheit, in Verweigerung, in Trotz, in Bestätigung, ja, ja, ja, ja, ja!
Der Mann bewegte sich auf sie zu. Der Junge, außer sich, ließ mich verzweifelt los und warf sich zwischen die beiden, doch der Mann fegte ihn mit solcher Wut beiseite, dass der Junge lang hingestreckt zu Boden fiel.
Doch ehe der Mann sie an der Schulter packen konnte, ehe er sie auch nur berühren konnte - und sie hatte gerade wieder mit dem ersten Satz angefangen, ah, ah, aaah! Die Appassionata von vorn mit aller Kraft -, da hatte ich ihn am Kragen und schleuderte ihn zu mir herum. »Umbringen willst du sie?«, zischte ich. »Na, wir werden sehen!«
»Ja!«, schrie er. Sein Gesicht war schweißüberströmt, und die vorstehenden Augen glänzten fiebrig. »Ich bringe sie um! Sie hat mich total verrückt gemacht, wahnsinnig hat sie mich gemacht, und sie stirbt!« Er war so rasend, dass er sich nicht einmal Gedanken darüber machte, wieso ich da war. Er versuchte nur, mich fortzustoßen, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Sei verdammt, Sybelle, hör auf zu spielen, hör auf!« Ihre Akkorde dröhnten schon wieder wie Donnergrollen und ihre Haare wogten im Takt, als sie ungestüm vorwärts drängte. Ich zwang den Mann gewaltsam zurück, und indem ich ihn an der Schulter gepackt hielt und mit der anderen Hand sein Kinn aus dem Weg schob, saugte ich mich an seinem Hals fest und riss ihm die Kehle auf, dass das Blut mir in den Mund spritzte. Es war versengend und üppig und trug seinen Hass mit sich und seine Bitterkeit, und all seine Träume und Rachefantasien.
Oh, wie heiß es war! Ich nahm es in tiefen Zügen in mich auf, sah, wie es gewesen war, er hatte sie geliebt, hatte sie gehegt, sie, seine begabte Schwester, er, der gerissene, giftzüngige, unmusikalische Bruder, der sie zum Gipfel seines kostbaren, kultivierten Universums führte, bis ein ganz gewöhnliches Unglück ihren Aufstieg unterbrochen und sie in den Wahnsinn getrieben hatte, so dass sie sich von ihm abwandte, Gedächtnis und Ehrgeiz gleichermaßen verlor und in endloser Trauer um die Opfer des Unfalls versank. Es waren ihre Eltern gewesen, ihre liebenden, stets Beifall spendenden Eltern, auf einer dunklen, kurvenreichen Landstraße zu Tode gekommen, genau am Vorabend ihres größten Triumphes, ihres Welt-Debüts als voll ausgebildetes Genie am Klavier.
Ich sah den Wagen durch die Nacht brausen, ich hörte den Bruder auf dem Rücksitz plaudern, die Schwester neben ihm tief im Schlaf. Ich sah, wie der Wagen gegen einen anderen prallte. Ich sah die Sterne hoch oben, grausame, stumme Zeugen. Ich sah die zerschmetterten, leblosen Körper. Ich sah Sybelles Gesicht, wie sie unverletzt nur mit zerfetzten Kleidern am Straßenrand stand. Ich hörte seine Schreckensschreie, seine ungläubigen Flüche. Ich sah zersplittertes Glas, überall zersplittertes Glas, das im Licht der Scheinwerfer so hübsch glitzerte. Ich sah ihre Augen, blassblaue Augen. Und ich sah, wie ihr Herz sich verschloss.
Mein Opfer war tot. Er rutschte mir aus den Armen. Nun war er ebenso leblos wie seine Eltern damals in dem heißen Wüstennest. Er war zusammengesackt, tot, konnte ihr nie wieder etwas antun, würde nie wieder an ihren gelben Haaren ziehen oder sie schlagen oder sie vom Klavierspiel abhalten.
Der Raum war köstlich still. Nur ihr Klavier erklang. Sie war inzwischen wieder beim dritten Satz angelangt und wiegte sich sanft im Rhythmus des ruhigen Anfangsteils mit seinen angenehm gemessenen Takten.
Der Junge machte einen Freudentanz. In seiner Djellaba, mit nackten Füßen und dem dichten Lockenschopf, wirkte er wie ein Engel aus Arabien, während er in die Luft sprang und tanzte. »Er ist tot, er ist tot, er ist tot!«, rief er dabei und klatschte immer wieder in die Hände, rieb sie sich zwischendurch, bis er begeistert die Arme in die Höhe warf. »Er ist tot, er ist tot! Er kann ihr nie mehr etwas tun, er kann sie nie mehr schikanieren, jetzt hast du ihn schikaniert,
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