Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
irren Augen auf das Schweißtuch starrten. Manchmal sprachen sie von dem armen Armand oder dem tapferen Armand oder von Sankt Armand, der in seiner Hingabe an den Gekreuzigten sich vor eben diesem Kirchenportal selbst als Opfer dargebracht hatte!
Manche taten dann das Gleiche. Und jedesmal, wenn die Sonne gerade aufging, musste ich mir das anhören, hörte ihre letzten verzweifelten Gebete, während sie auf das tödliche Licht warteten. Machten sie einen besseren Handel als ich? Fanden sie ihre Zuflucht in den Armen Gottes? Oder heulten sie in Todesqual, so wie ich sie verspürte, unerträglich verbrannt und nicht in der Lage zu entkommen, oder waren sie wie ich ausweglos gefangen, auf Hinterhöfen und unerreichbaren Dächern? Nein, sie kamen und s ie gingen wieder, wie auch ihr Schicksal war.
Wie verschwommen alles war, wie weit weg! Mir tat es so Leid, dass Lestat meinetwegen weinen musste, aber ich musste hier sterben. Früher oder später würde ich hier sterben. Was immer ich in dem Moment gesehen hatte, als ich der Sonne entgegengeschleudert wurde, es war nicht wichtig. Ich würde sterben. Und das war alles. Elektronische Stimmen durchbohrten die Nacht, berichteten von dem Wunder, dass das Antlitz Christi auf einem Leinentuch Kranke geheilt hatte, dass es seinen Abdruck hinterließ, wenn man eine zweites Tuch darauf presste. Dann folgten Diskussionsrunden zwischen Geistlichen und Skeptikern, ein einziges Gedröhne.
Ich kultivierte ein Gefühl des Nichts. Ich litt. Mein Körper brannte. Ich konnte die Augen nicht öffnen, denn wenn ich es versuchte, kratzten meine Wimpern über den Augapfel, und das war kaum auszuhalten. Von Dunkelheit umgeben, wartete ich auf sie. Früher oder später kam unfehlbar ihre großartige Musik, mit all den neuen, wundersamen Variationen, und dann war nichts mehr wichtig, nicht die mysteriöse Frage, wo ich mich befand oder was ich gesehen haben mochte oder was David und Lestat zu tun beabsichtigten. Erst in der siebten Nacht hatte ich all meine Sinne wieder beisammen und verstand meine grausame Lage richtig.
Lestat war fort. David auch. Die Kirche war geschlossen worden. Das Geraune der Sterblichen machte mir bald klar, dass das Schweißtuch nicht mehr hier war.
Die Gedanken der ganzen Stadt stürmten auf mich ein, das Getöse war unerträglich. Ich schottete mich davon ab, weil ich fürchtete, dass ein streunender Unsterblicher sich auf mich stürzen konnte, wenn er auch nur den Funken eines Gedankens von mir auffing. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass ein unsterblicher Fremder einen Rettungsversuch unternehmen mochte. Ich konnte die Vorstellung an ihre Gesichter, ihre Fragen, ihre mögliche Betroffenheit oder gnadenlose Gleichgültigkeit nicht ertragen. Ich verbarg mich vor ihnen, rollte mich trotz meines aufgesprungenen, angespannten Fleisches zusammen. Dennoch hörte ich sie, so wie ich die sterblichen Stimmen vernahm, die von Wundern und Erlösung und der Liebe Christi sprachen.
Darüber hinaus hatte ich genug damit zu tun, meine momentane missliche Lage zu analysieren und wie es dazu gekommen war. Mein Sturz hatte mich auf ein flaches Dach geschleudert, aber ich lag nicht direkt unter offenem Himmel, wie ich vielleicht gehofft oder vermutet hätte. Mein Körper war über eine schräge Metallplatte gerutscht und ruhte nun neben einer verbogenen, rostenden Trennwand, wo er wiederholt in Schneewehen versunken war. Wie war ich hierher gekommen? Ich konnte es nur vermuten. Zwei Dinge hatten mich in die Luft geschleudert, meine eigener Wille und die Morgensonne, die das Blut in meinem Körper hatte explodieren lassen. Ich war nach oben getrieben worden, höher wäre es wahrscheinlich nicht mehr gegangen. Seit Jahrhunderten beherrschte ich schon die Fähigkeit, mich hoch in die Luft zu erheben und dort fortzubewegen, aber ich hatte es nie bis zum Äußersten getrieben. Doch nun, in meinem Eifer zu sterben, hatte ich jede verfügbare Kraft aufgewandt, um himmelwärts zu steigen. Ich war also aus sehr großer Höhe gefallen. Das Gebäude unter mir war leer, verlassen, gefährlich, ohne Wärme und Licht. Nicht ein Ton kam aus dem hohlen, metallverkleideten Treppenhaus und den verwohnten, verfallenden Räumen. Der Wind verfing sich sogar manchmal in dem Gebäude, und dann klang es, als spiele jemand auf einer großen Orgel, und wenn Sybelle nicht an ihrem Flügel saß, dann hatte ich diese Musik, der ich lauschte, indem ich die Geräusche der Stadt ringsum ausschloss.
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