Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Raum mit teurem, aber wahllos zusammengestelltem Mobiliar, gerahmte Bilder reichten bis zur Decke, blumengemusterte Teppiche breiteten sich unter verschnörkelten Beinen moderner Tische und Stühle aus, und da glänzte der Flügel, der diese Töne erzeugt hatte, mit der langen Reihe grinsender, weißer Tasten, mitten in diesem Durcheinander triumphierte er über Herz und Geist und Seele.
Vor mir auf dem Boden kniete ein Junge und betete, ein Araberjunge mit schimmerndem, schwarzem, kurzem Kraushaar. Er trug eine hübsche Djellaba, das ist ein loser, weiter Mantel aus Baumwolle, für die Wüste geeignet. Er hatte die Augen geschlossen und sein rundes kleines Gesicht mir entgegengehoben, obwohl er mich nicht sehen konnte. Mit gerunzelten Augenbrauen plapperte er in Arabisch vor sich hin, dass die Worte nur so über seine Lippen sprudelten: »Ach, lass doch einen Geist erscheinen, oder einen Engel, der ihn aufhalten soll, lass etwas aus der Finsternis kommen, egal was, irgendetwas mit Macht und Rachsucht. Mir ist egal, was, komm nur, ob aus dem Licht oder von den Göttern, denn die werden doch nicht zulassen, dass die Sündigen siegen. Halte ihn auf, ehe er meine Sybelle umbringt. Halt ihn auf, dies ist Benjamin, der Sohn des Abdull, der dich anruft, nimm meine Seele als Bezahlung, nimm mein Leben, aber komm, komm, du, der du stärker bist als ich, und rette meine Sybelle.«
»Still!«, brüllte ich. Ich war außer Atem. Mein Gesicht war nass. Meine Lippen bebten unbeherrscht. »Was willst du, sag’s endlich!« Er heftete seinen Blick auf mich. Er sah mich. Sein kleines, rundes, byzantinisches Gesicht hätte genauso in Verwunderung verewigt von den Wänden einer Kirche starren können, aber er war hier, er war wirklich, und er sah mich, und genauso etwas wie mich hatte er sehen wollen.
»Guck doch, du Engel!«, rief er, die jugendliche Stimme geschärft durch den arabischen Akzent. »Kannst du mit deinen großen, schönen Augen denn nicht sehen?«
Und ich sah.
Die ganze Realität auf einen Blick.
Sie, die junge Frau, Sybelle, schmiegte sich verzweifelt an den Flügel, wollte sich nicht von der Bank wegzerren lassen, ihre Hände reckten sich nach den Tasten. Hinter ihrem geschlossenen Mund drängte ein entsetzliches Stöhnen hervor, und das gelbe Haar flatterte ihr um die Schultern. Und den Mann, der sie durchschüttelte, an ihr zog, sie anschrie, der ihr plötzlich einen kräftigen Hieb mit der Faust versetzte, der sie rückwärts von der Klavierbank zerrte, so dass sie einen Schrei ausstieß, als sie zusammengekrümmt auf dem Teppich landete. »Appassionata! Appassionata!«, knurrte er sie an, ein größenwahnsinniger Übervater mit bärenhafter Statur. »Ich will es nicht mehr hören, ich will nicht, das tust du mir nicht an! Das ist mein Leben!« Er röhrte wie ein Bulle. »Du spielst nicht weiter!«
Der Junge sprang auf die Füße und griff nach mir. Er klammerte sich an meine Handgelenke, und als ich ihn abschüttelte, krallte er sich in meine samtenen Manschetten.
»Halt ihn auf, Engel! Halt ihn auf, Teufel! Er kann sie nicht mehr ertragen. Er wird sie töten. Halt ihn auf, Teufel! Sie ist gut!« Sie richtete sich auf die Knie auf, das Haar fiel ihr wie ein zerfetzter Schleier übers Gesicht. Seitwärts an ihrer schmalen Taille entdeckte ich auf dem Stoff ihres Kleides einen großen, schon eingetrockneten Blutfleck.
Erbost sah ich zu, wie der Mann sich zurückzog. Er war groß, mit rasiertem Kopf und vorquellenden Augen. »Du verrücktes Miststück, verrückte, selbstsüchtige Schlampe! Habe ich kein eigenes Leben? Gibt es für mich keine Gerechtigkeit? Habe ich keine Träume?«, beschimpfte er sie, dabei presste er die Hände gegen die Ohren. Aber ihre Finger lagen schon wieder auf den Tasten. Sie arbeitete sich mit hastenden Fingern durch den zweiten Satz der Appassionata, als wäre sie nie unterbrochen worden. Ihre Hände hämmerten auf die Tasten. Ein wütender Notenhagel nach dem anderen prasselte hernieder, als wäre das Stück nur zu dem einen Zweck geschrieben worden, ihm Widerworte zu geben, ihm zu trotzen, als wolle sie damit rufen: »Ich höre nicht auf, ich höre nicht auf!« Ich sah, was passieren würde. Er drehte sich um und funkelte sie an, aber es war, als wolle er mit diesem Blick seine Wut nur auf den höchsten Punkt bringen. Er riss die Augen weit auf, sein Mund verzerrte sich zu einem tödlichen Lächeln.
Vor und zurück wippte sie auf der Klavierbank, mit fliegendem Haar, das
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