Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
nichts mehr bleibt, da höre ich ihre Musik! Ich kann hören, wie sie die letzten Töne der Appassionata spielt! Ich höre es. Ich höre ihr aufwühlendes Lied.«

20
     
    I ch starb natürlich nicht.
    Mit Sybelles Klavierspiel im Ohr erwachte ich, aber sie war sehr weit weg. In den ersten paar Stunden nach Sonnenuntergang, als der Schmerz am schlimmsten war, benutzte ich die Klänge, benutzte ich mein Horchen dazu, um mich von rasendem Geschrei abzuhalten, denn nichts brachte den Schmerz zum Versiegen.
    Ich war so tief im Schnee eingesunken, dass ich mich nicht rühren und auch nichts sehen konnte, außer den Dingen, die ich sah, wenn ich die Fühler meines Geistes ausstreckte. Und da ich am liebsten gestorben wäre, nutzte ich diese Fähigkeit nicht. Ich lauschte nur Sybelle, wie sie die Appassionata spielte, und manchmal summte ich in meinem Träumen die Melodie mit.
    Zwei Nächte lang lauschte ich einfach nur, das heißt, wenn sie Lust hatte, zu spielen. Manchmal hörte sie für ein paar Stunden auf, vielleicht um zu schlafen. Was wusste ich. Dann begann sie ihr Spiel wieder, und ich fiel ein. Ich folgte den drei Sätzen, bis ich sie kannte, wie Sybelle sie kennen musste, auswendig. Ich erkannte die Variationen, die sie einfügte, ich wusste inzwischen, dass nicht zwei ihrer Passagen sich je glichen.
    Ich lauschte auch auf Benjamin, der nach mir rief. Ich hörte seine kleine, scharfe Stimme, die sehr schnell und im typischen New Yorker Tonfall redete: »Engel, du bist doch noch nicht mit uns fertig. Was sollen wir mit ihm machen? Engel, komm zurück. Engel, du kriegst auch Zigaretten. Engel, ich habe jede Menge Zigaretten, beste Ware. Komm zurück, Engel, das war nur ein Scherz. Ich weiß, dass du dir selbst Zigaretten besorgen kannst. Aber es ist wirklich verflixt, dass du diese Leiche hier gelassen hast. Komm zurück.«
    Stundenlang hörte ich von beiden nichts. Dann war mein Geist nicht stark genug, um sie telepathisch zu erreichen, und sei es nur, sie zu sehen, den einen durch die Augen der anderen zu sehen. Nein, die Kraft hatte ich einfach nicht.
    Ich lag in dumpfer Unbewegtheit. Was ich gehört und gesehen hatte, hatte mich nicht weniger versengt als das Licht der Sonne. Innerlich verwundet und leer und tot an Geist und Seele, das Einzige, was noch lebte, war meine Liebe zu den beiden. Zwei hübsche Fremde - ein dem Wahnsinn verfallenes Mädchen und ein schelmischer, mit allen Wassern gewaschener Gossenjunge, der sich um sie kümmerte - sie zu lieben, wenn man in schwärzestem Elend lag, das war nur allzu leicht, oder? Wie ich ihren Bruder getötet hatte, das hatte es noch nie gegeben. Bravo, und Schluss. Aber diese ganzen Schmerzen, die hatte es schon vor fünfhundert Jahren gegeben. Viele Stunden lang sprach nur die Stadt zu mir, die große, lärmende, brodelnde, rauschende Stadt New York mit ihrem unaufhörlich polternden Verkehr, den man selbst durch den dichtesten Schnee hörte, und mit den sich überlagernden Schichten verschiedenster Stimmen und Leben, die zu meiner Ebene aufstiegen und darüber hinaus bis hin zu hochragenden Gebäudetürmen, wie sie die Welt zuvor nie gekannt hatte. Ein paar Dinge waren mir klar, aber ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich wusste, dass die Schneeschicht über mir immer dichter wurde und sogar noch fester, aber ich verstand nicht, wie schlichtes Eis mir Schutz vor den Sonnenstrahlen bieten konnte. Ich muss bestimmt sterben, dachte ich. Wenn nicht heute bei Ta gesanbruch, dann spätestens am nächsten Morgen. Ich dachte an Lestat, wie er das Schweißtuch ausbreitete. Ich dachte an Sein Antlitz, aber jede Inbrunst war mir abhanden gekommen. Und auch alle Hoffnung. Ich werde sterben, dachte ich. Jeden Morgen ein bisschen. Aber ich starb nicht.
    Weit unten in der Stadt hörte ich andere Vampire. Nicht, dass ich mich bemühte hätte, sie zu hören, deshalb drangen auch ihre Gedanken nicht zu mir herauf. Ich hörte nur das, was sie sagten. Lestat und David waren da unten. Sie dachten, ich wäre tot. Sie trauerten um mich. Aber eigentlich plagten Lestat noch viel schlimmere Dinge, denn Dora und die Welt hatten das Schweißtuch für sich vereinnahmt, und die Stadt wimmelte von Gläubigen. Die Kathedrale war kaum in der Lage, die Mengen zu beherbergen.
    Auch andere Unsterbliche kamen, die jungen, schwachen und manchmal, viel schrecklicher, die ganz alten, die dieses wahre Wunder sehen wollten, die sich nächtens unter die sterblichen Andächtigen mischten und mit

Weitere Kostenlose Bücher