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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Hin und wieder schlichen Sterbliche in den unteren Räumen des Gebäudes herum. Dann spürte ich einen kleinen Hoffnungsschimmer. Kam vielleicht irgendein Dummkopf auf die Idee, dieses Dach zu erklimmen? Dann würde ich mich auf ihn stürzen und sein Blut trinken, das ich so dringend brauchte - nur um dann unter diesem schützenden Überdach hervorzukommen und mich dann unbedeckt der Sonne auszusetzen? In der jetzigen Lage konnte die Sonne mich kaum erreichen. Nur ein stumpfes weißes Licht durchdrang das schneeige Leichentuch, in das ich gewickelt war, und versengte mich. Und mit jeder Nacht würde sich dieser erneute Schmerz lindern und mit den anderen Schmerzen verschmelzen.
    Aber es kam nie jemand hier herauf.
    Der Tod würde sich viel Zeit nehmen, vielleicht kam er erst, wenn das warme Wetter begann und der Schnee wegschmolz.
    Und während ich mich nach dem Tode sehnte, musste ich mich doch jeden Morgen aufs Neue damit abfinden, dass ich wieder aufwachen würde, vielleicht mit noch stärkeren Verbrennungen, aber auch noch tiefer unter den Schneemassen begraben, die mich zudem vor den hunderten erleuchteter Fenster abschirmten, die auf dieses Dach herunterschauten.
    Wenn Sybelle schlief und Benji seinen Platz am Fenster aufgegeben hatte, von wo aus er zu mir betete und zu mir sprach, war es immer am schlimmsten: seltsam kalt, teilnahmslos, niedergeschlagen, weil ich an nichts anderes denken konnte, dachte ich über die Merkwürdigkeiten nach, die mir bei meinem Sturz durch den leeren Raum widerfahren waren.
    Es war alles so real gewesen, der Altar in der Santa Sophia, das Brot, das ich mit meinen eigenen Händen gebrochen hatte. Ich hatte so vieles erfahren, vieles auch, das ich mir nicht mehr ins Gedächtnis zurückrufen, nicht in Worten ausdrücken konnte, Dinge, die ich in dieser Erzählung hier nicht mehr erklären kann, obwohl ich mich bemühe, alles noch einmal zu durchleben.
    Real, greifbar. Ich hatte die Al tardecke gefühlt, und bevor der Vogel aus dem Ei aufgeflogen war, hatte ich den Wein fließen sehen. Ich hatte immer noch das Geräusch der zerbrechenden Schale im Ohr. Und ich vernahm die Stimme meiner Mutter. Und alles, was dazu gehörte. Aber mein Geist weigerte sich, sich noch länger damit zu beschäftigen. Ich wollte das alles nicht. Die inbrünstige Hingabe hatte sich als zerbrechlich erwiesen. Sie war dahin, dahin wie die Nächte mit meinem Meister in Venedig, wie mein Umherstreifen mit Louis, wie die fröhlichen Monate auf »Night Island«, dahin wie die langen, beschämenden Jahrhunderte mit den Kindern der Finsternis, in denen ich mich als reiner Tor erwiesen hatte.
    Ich konnte an Einzelheiten denken, an das Schweißtuch, an das Himmelreich, daran, wie ich das Wunder der Wandlung vollzogen hatte, der Leib Christi in meiner Hand. Ja, das ging, aber das alles zusammengenommen war zu schrecklich gewesen, und ich lebte immer noch, und ich hatte keinen Memnoch, der mir anbot, sein Gehilfe zu werden, keinen Christus, der mich im allumfassenden Göttlichen Licht in die Arme schloss.
    Es war viel hübscher, an Sybelle zu denken, sich daran zu erinnern, dass dieses Zimmer mit den bunten persischen Teppichen und den nachgedunkelten Gemälden ebenso real gewesen war wie die Kirche in Kiew, und daran, dass sie mir ihr längliches, bleiches Gesicht zugewandt hatte, an das jähe Aufleuchten ihrer feuchten Augen. Eines Abends konnte ich tatsächlich die Augen öffnen, die Lider hoben sich wahrhaftig über meinen Augäpfeln, und ich konnte durch die weiße Eisschicht sehen, die mich bedeckte. Da spürte ich, dass der Heilungsprozess eingesetzt hatte. Ich versuchte, die Arme zu bewegen. Kaum merklich konnte ich sie anheben, und das Eis begann durch die Bewegung zu reißen - ein ungewöhnlich elektrisierendes Geräusch. Die Sonnenstrahlen kamen nicht bis zu mir, zumindest reichte ihre Kraft nicht aus, dass sie das machtvolle Blut, das mit übernatürlicher Gewalt meinen Körper durchtobte, außer Kraft setzten konnte. O Gott, wenn man bedachte, dass ich, geboren aus Marius’ Blut, der seine eigene Kraft kaum kannte, seit fünfhundert Jahren immer stärker wurde!
    Ganz kurz dachte ich darüber nach, dass sich meine Wut, meine Verzweiflung nicht mehr steigern konnten. Schlimmer konnte auch der glühende Schmerz in meinem Körper nicht sein. Dann begann Sybelle zu spielen. Sie spielte die Appassionata, und alles andere war unwichtig.
    Und das blieb so, bis sie aufhörte. Die Nacht war wärmer als gewöhnlich,

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