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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Möglichkeit gab es nicht. Ich setzte alles auf eine Karte. Ich durchforschte Santinos Gesicht bis in die letzten Winkel und schrak entsetzt zurück, auch wenn ich ihn nicht losließ. Lestat, mein Lestat - denn er war doch nie ihr Lestat, nicht wahr? -, mein Lestat war durchgedreht und raste, als Reaktion auf sein schreckliches, sagenhaftes Erlebnis, und die Ältesten unserer Art hielten ihn gefangen und hatten verfügt, dass sie ihn vernichten mussten, wenn er weiterhin Unruhe stiftete, was natürlich hieß, wenn er weiterhin unsere Geheimnisse der Öffentlichkeit preisgab. Bewerkstelligen konnten das natürlich nur die Allerältesten, und es war nutzlos, für ihn einzutreten, für ihn zu bitten.
    Nein, das durfte nicht passieren! Ich wand mich unter dem Eis, dass Schmerzen wie Schläge durch mich hindurchpulsierten, rote und lilaund orangefarbene Lichtpfeile. Solche Farben hatte ich seit meinem Sturz nicht gesehen. Mein Verstand erholte sich wieder, und wozu? Um zu erleben, wie Lestat vernichtet wurde! Lestat eingekerkert, wie ich einst vor Jahrhunderten in Santinos Katakomben. Ach, Gott, das war schlimmer als das Feuer der Sonne, das war schlimmer als der Anblick dieses prügelnden Mistkerls von Bruder, als er Sybelle von dem Flügel fortstieß. Ich fühlte eine mörderische Wut.
    Aber ein kleines Missgeschick war passiert. »Komm, wir müssen hier raus«, sagte Santino. »Hier stimmt etwas nicht, ich spüre irgendetwas Unerklärliches. Es ist, als wäre etwas in unserer Nähe und doch nicht in unserer Nähe, als ob jemand, der genauso stark wie ich ist, meine Schritte über viele Meilen hinweg vernommen hätte.« Marius schaute gütig, neugierig, nicht beunruhigt. Er sagte nur:
    »New York gehört heute Nacht uns.« Dann warf er einen letzten ängstlichen Blick in den Ofenschlund. »Es sei denn, eine Art Geist, der sich zu zäh ans Leben klammert, haftete noch an diesen Spitzen und an dem Samtstoff, den er trug.«
    Ich schloss die Augen. Ach Gott, wenn ich doch auch meinen Geist verschließen könnte! Ganz fest.
    Er sprach weiter, stach durch die zarte, von mir schon erweichte Hülle meines Bewusstseins. Aber ich habe nie an so etwas geglaubt. »Meinst du nicht, dass es uns auf gewisse Art geht wie bei der Abendmahlsfeier? Wir sind nur so lange Leib und Blut eines mysteriösen Gottes, wie wir uns an die vorhandene Form klammern. Was sind schon Strähnen roten Haares, was sind versengte Spitzenfetzen? Er ist dahin.«
    »Ich verstehe dich nicht«, gestand Santino leise. »Aber wenn du denkst, dass ich ihn nie geliebt habe, hast du Unrecht.«
    »Dann weg von hier«, sagte Marius. »Wir sind fertig. Alle Spuren sind beseitigt. Aber versprich mir mit ganzer Seele, einer alten Katholikenseele, dass du nicht nach dem Schweißtuch suchen wirst. Millionen Augenpaare haben es angeschaut, Santino, und nichts hat sich verändert. Die Welt ist geblieben, wie sie war, und auf jedem Fleckchen Erde sterben Kinder, hungrig und allein.«
    Ich konnte kein Risiko mehr eingehen, ich zog mich zurück, durchstreifte die Nacht mit meinen Gedankenfingern wie mit einem Lichtstrahl, hielt nach Sterblichen Ausschau, die sie möglicherweise beim Verlassen des Gebäudes sehen würden, aber sie verschwanden zu heimlich und zu schnell.
    Ich spürte ihr Verschwinden, spürte ihre plötzliche Abwesenheit, das Fehlen ihrer Atemzüge, ihres Pulsschlags, und wusste, dass der Wind sie fortgetragen hatte.
    Nach einer weiteren Stunde ließ ich mein geistiges Auge noch einmal durch die Räume gleiten, in denen sie sich aufgehalten hatten. Die armen, verwirrten Techniker und Wachen, die von den weißgesichtigen Erscheinungen aus einem anderen Reich in sanfte Trance versetzt worden waren, verhielten sich still. Wenn man am Morgen den Diebstahl und die fehlenden Unterlagen bemerkte, würde Doras Wunder damit einen weiteren heftigen Rückschlag erleiden und so noch schneller der Vergessenheit anheim fallen.
    Ich fühlte mich wund. Ich schluchzte trocken und rau auf, zu erlösenden Tränen nicht mehr fähig.
    Ich glaube, einmal stieß ich meine Hand durch das Eis. Wie eine groteske Klaue sah sie aus, eher wie abgezogen als wie verbrannt, und sie glänzte noch genauso, wie ich es bei meinem Sturz gesehen hatte. Ein Gedanke nagte an mir: Was war da Mysteriöses geschehen? Wie hatte ich Sybelles schändlichen Bruder töten können? Wie konnte das etwas anderes als eine Illusion gewesen sein, dieser schnelle gerechte Lohn, der ihn ereilt hatte, als ich unter der

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