Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
liefen mir die Tränen über die Wangen. Waren sie blutig? »Schaut mich nicht an«, sagte ich. »Benji, Sybelle, schaut weg. Gebt mir einfach die Decke.«
Sie starrte mich mit zusammengekniffenen Augen an, ungehorsam, mit stetem Blick. Mit einer Hand raffte sie den Kragen ihres dünnen Morgenmantels gegen die Kälte zusammen, die andere deutete auf mich. »Was ist dir widerfahren, nachdem du bei uns gewesen bist?« Ihre Stimme war unendlich sanft. »Wer hat dir das angetan?« Ich schluckte hart und ließ die Vision aufs Neue erstehen. Ich atmete sie förmlich durch alle meine Poren. »Nein, hör auf damit«, bat Sybelle. »Es schwächt dich nur, und du hast schon solche Schmerzen.«
»Ich werde genesen, meine Liebste«, sagte ich, »ich verspreche es dir. Ich werde bald wieder anders aussehen. Nur schafft mich von diesem Dach herunter. Schafft mich aus der Kälte, und bringt mich irgendwohin, wo die Sonne mich nicht erreichen kann. Die Sonne hat dies nämlich verursacht. Nur die Sonne. Tragt mich bitte weg. Ich kann nicht gehen. Ich kann nicht einmal kriechen. Ich bin ein Nachtgeschöpf. Verbergt mich im Dunkeln.«
»Es reicht schon, sag nichts mehr!«, rief Benji.
Eine große, leuchtend blaue Woge legte sich über mich, als ob der Sommerhimmel mich einhüllen wollte. Ich spürte den weichen Samt, und selbst das verursachte Schmerzen auf meiner brennenden Haut, aber ich konnte den Schmerz ertragen, weil sich sanfte, hilfreiche Hände um mich bemühten, und deswegen, wegen ihrer Liebe, hätte ich alles ertragen.
Ich merkte, wie ich hochgehoben und in die Decke gewickelt wurde. Es war schrecklich, so hilflos zu sein, obwohl ich wusste, dass ich kaum etwas wog.
»Bin ich zu schwer? Könnt ihr mich nicht tragen?«, fragte ich. Ich sah den Schnee wieder, denn mein Kopf war zurückgesunken, und ich stellte mir vor, wenn ich nur scharf genug hinsah, konnte ich sogar die Sterne sehen. Hoch oben trotzten sie weit über dem Nebeldunst eines einzelnen kleinen Planeten der Zeit.
»Hab keine Angst«, flüsterte Sybelle, die Lippen dicht an die Decke gedrückt. Das Aroma ihres Blutes umfing mich plötzlich üppig und dick wie Honig.
Beide hielten mich jetzt, umringen mich mit ihren Armen und rannten gemeinsam über das Dach. Endlich war ich befreit, befreit von beißendem Schnee und Eis, fast schon befreit für immer. Ich durfte den Gedanken an ihr Blut nicht zulassen. Dieser gefräßige, verbrannte Körper durfte nicht die Oberhand gewinnen. Das war undenkbar. Nun ging es die eisernen Stufen hinab, Runde um Runde durch das Treppenhaus, kleine Füße trommelten auf den brüchigen Stahlplatten. Die Stöße drangen mit tödlich pochendem Schmerz durch meinen Körper. Jäh überwältigte mich der Geruch, den das Blut der beiden ausströmte, so dass ich die Augen schloss und meine verbrannten Hände ballte, bis die ledrige Haut hörbar riss. Ich presste die Fingernägel in meine Handflächen.
Sybelle sprach an meinem Ohr. »Wir halten dich fest, wir lassen dich nicht fallen. Es ist nicht mehr weit. O Gott, sieh dir das an. Schau, was die Sonne mit dir gemacht hat!«
»Glotz nicht!«, sagte Benji ungnädig. »Renn lieber! Meinst du etwa, ein so mächtiger Dybbuk könnte nicht deine Gedanken lesen? Nimm deinen Grips zusammen und renn!«
Sie waren jetzt in der untersten Etage, wo sie das Fenster eingeschlagen hatten. Ich spürte, wie Sybelle mir ihre Arme unter Nacken und Kniekehle schob und mich hochhob, während von draußen Benjis Stimme kam: »Ich bin so weit, nun reich ihn mir rüber, ich kann ihn tragen!« Wie wild und aufgeregt er sich anhörte! Aber sie war schon mit mir auf den Armen durch das Fenster geklettert, so viel bekam ich noch mit, obwohl mein Dybbuk-Geist vollkommen erschöpft war und ich von nichts mehr wusste als Schmerz und Blut und wieder Schmerz und dann das Blut, und sie rannten durch eine sich hinstreckende, dunkle Seitengasse, in der ich den Himmel nicht sehen konnte. Und doch, wie wunderbar war das alles! Die wiegende Bewegung, die meine Beine hin und herpendeln ließ, die weiche Berührung ihrer Finger, die tröstlich durch die Decke drang, all das war schrecklich schön. Es war kein Schmerz mehr, es war reines Empfinden. Dann rutschte die Decke über mein Gesicht. Sie rannten schneller, ihre Füße knirschten im Schnee. Ein Aufschrei - Benji glitt aus und wurde im letzten Moment erst von Sybelle gehalten. Tief sog er den Atem ein. Es war wirklich Schwerstarbeit für sie in dieser Kälte.
Endlich
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