Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
erreichten wir das Hotel, in dem sie lebten. Als sie die Türen aufstießen, überschwemmte uns die stickige, warme Luft, die aus dem Foyer drang. Dann hallte der Eingangsraum von ihren Schritten wider, Sybelle in zierlichen Schuhen und Benji in schlurfenden Sandalen. Als sie mich in den engen Fahrstuhl quetschten, s choss mir ein plötzlicher Schmerz durch Rücken und Beine. Ich biss mir auf die Zunge, um nicht aufzuschreien. Dann begann der Fahrstuhl, der nach altem Motoren- und Schmieröl roch, seinen schwankenden, ruckelnden Aufstieg.
»Wir sind zu Hause, Dybbuk«, flüsterte Benji. Sein warmer Atem streifte über meine Wange, und seine Hände fassten durch die Samtdecke nach mir und stießen schmerzhaft gegen meinen Kopf. »Wir sind in Sicherheit, wir haben dich eingefangen, jetzt haben wir dich.«
Schlösser klackten, Füße a uf hartem Parkett, der Duft nach Weihrauch und Kerzen, nach schwerem Parfüm und Möbelpolitur, nach alter Leinwand und rissiger Ölfarbe, und darüber der überwältigend süße Duft nach frischen Lilien.
Nachdem sie die Decke gelöst hatten, legten sie mich behutsam auf ein Daunenbett, so dass ich in mehreren Kissenlagen aus Samt und Seide weich versank. Es war das zerdrückte Nestchen, in dem ich Sybelle, goldhaarig, im weißen Nachthemd, mit meinem geistigen Auge hatte liegen sehen. Und nun hatte sie es einem solchen Schreckgespenst überlassen.
»Zieht die Decke nicht weg«, bat ich. Ich wusste, dass mein kleiner Freund das gern wollte.
Doch unerschrocken, wenn auch sachte, zog er sie zur Seite. Ich versuchte, sie mit der einen, langsam heilenden Hand festzuhalten, aber mir gelang es gerade mal, die Finger leicht zu biegen. Sie standen neben dem Bett und schauten auf mich nieder. Ein Wirbel aus Licht und Wärme hüllte die beiden zarten Wesen ein, das überschlanke Mädchen mit der milchweißen Porzellanhaut, die jetzt keine Blutergüsse mehr trug, und der kleine arabische Knabe, der Beduinenjunge - denn das war er eigentlich, wie mir jetzt klar wurde. Ohne Furcht betrachteten sie, was für menschliche Augen eigentlich nicht erträglich war.
»Du glänzt so sehr! Tut es weh?«, fragte Benji.
»Was können wir tun?«, fragte Sybelle. Sie hatte die Hände vor den Mund gelegt und sprach so gedämpft, als könnte sie mir mit ihrer Stimme wehtun. Die Strähnen ihres glatten, hellen Haares bewegten sich im Licht, und ihre Arme waren blau von der Kälte draußen. Sie konnte ihr Zittern nicht unterdrücken. Armes, übrig gelassenes Ding, so zerbrechlich! Ihr zerdrücktes Nachthemd war aus dünner, weißer Baumwolle, mit Blümchen bestickt und mit Baumwollspitze besetzt, etwas für eine Jungfrau. Ihre Augen flössen über vor Mitgefühl. »Ich will dir meine Seele öffnen, mein Engel«, sagte ich zu ihr. »Ich bin ein böses Wesen. Gott wollte mich nicht haben, und der Teufel auch nicht. Ich hatte mich der Sonne ausgesetzt, um ihnen meine Seele zu schenken. Ich habe es aus Liebe getan, ohne Furcht vor Höllenfeuer oder Schmerzen. Aber diese Erde, unsere Erde hier, ist mein läuterndes Gefängnis geworden. Ich weiß nicht, welche Macht mir die kurzen Sekunden hier in diesem Raum schenkte, damit ich mich zwischen dich und den Tod werfen konnte, der schon wie ein lauernder Schatten über dir stand.«
»Nein«, flüsterte sie betroffen. »Er hätte mich nie getötet.«
»Hätte er doch!«, sagten Benji und ich im Chor.
»Er war betrunken und ihm war egal, was er tat«, erklärte Benji in plötzlicher Wut. »Er hatte so große, ungeschickte, gemeine Hände, ihm war egal, was passierte! Und als er dich das letzte Mal geschlagen hat, lagst du zwei Stunden unbewegt, wie tot, auf diesem Bett hier! Glaubst du etwa, ein Dybbuk tötet deinen Bruder grundlos?«
»Ich glaube, er hat Recht, mein hübsches Mädchen«, sagte ich. Es war so mühsam zu sprechen! Mit jedem Wort musste sich meine Brust heben. Ich hatte plötzlich den verrückten, verzweifelten Wunsch, in einen Spiegel zu sehen. Ich warf mich auf dem Bett hin und her, bis ich starr vor Schmerz liegen blieb.
Die beiden wurden von Panik übermannt.
Benji bettelte: »Beweg dich nicht, Dybbuk, nein! Sybelle, gib mir die Seidenschals, los, hol sie, wir wickeln ihn darin ein.«
»Nein«, flüsterte ich. »Zieht mir die Decke über. Lasst nur das Gesicht frei, wenn ihr es unbedingt sehen wollt, aber alles andere deckt zu. Oder …«
»Oder was? Sag es.«
»Richtet mich auf, damit ich mich sehen kann, ich will wissen, wie ich aussehe.
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