Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
weichem Käse und frisch geschnittenen Lauch vom Garten auf dem Dach. Kühle Milch kam in silbernen Krügen aus der Küche.
Unser Gebieter aß nichts, das wussten wir alle. Auch war er tagsüber stets fort. Niemals sprach man respektlos von ihm. Unser Gebieter konnte bis in die Seele seiner Knaben sehen. Unser Gebieter wusste, wer gut, wer schlecht war, und er wusste, wann er getäuscht wurde. Doch alle Lehrlinge hier waren brave Jungen. Dann und wann redete man verstohlen darüber, dass ein Knabe auf Grund seines üblen Verhaltens sehr schnell wieder aus dem Hause verbannt worden war. Aber nie machte einer von uns eine noch so banale Bemerkung über unseren Herrn. Und niemand redete über die offensichtliche Tatsache, dass ich im Bett unseres Herrn schlief.
Zu Mittag speisten wir stets gemeinsam ganz förmlich an einer Tafel, es gab dann gebratenes Geflügel, zartes Lamm und dicke saftige Scheiben vom Rind.
Es kamen immer drei oder vier Lehrer gleichzeitig, um die Schüler in kleinen Gruppen zu unterrichten. Einige Lehrlinge erledigten ihre Aufgaben, während andere eifrig lernten.
Mir stand es frei, von der Lateinklasse zur griechischen zu wandern oder die erotischen Sonette durchzublättern und zu lesen, soweit ich es konnte, bis Riccardo zu meiner Rettung kam und selbst laut vorlas, während sich ein Kreis lachender Schüler um ihn bildete. Die Lehrer waren dann zum Abwarten gezwungen.
Unter dieser nachsichtigen Behandlung blühte ich auf. Ich lernte schnell und konnte bald schon auf jede beiläufige Frage meines Herrn antworten, ja, sogar eigene komplexe Fragen vorbringen. Mein Herr malte in vier von sieben Nächten, gewöhnlich ab Mitternacht, und bis er bei Tagesanbruch verschwand, vermochte ihn in diesen Nächten nichts zu unterbrechen. Mit erstaunlicher Leichtigkeit erkletterte er die Gerüste, beinahe wie ein großer, weißer Affe, und während er noch nachlässig seinen roten Umhang fallen ließ, griff er schon zum Pinsel, den einer der Jungen bereithielt. Dann malte er mit so wilder Energie, dass auf uns Lehrlinge, die wir entgeistert zuschauten, ein Sprühregen von Farbe herabspritzte. Mit seinem genialen Talent erweckte er innerhalb weniger Stunden ganze Landschaften zum Leben, mit hingebungsvoller Liebe zum Detail entstanden Gruppen von Menschen auf der Leinwand.
Während er arbeitete, summte er laut vor sich hin, und wenn er berühmte Dichter oder Helden anhand seiner Erinnerung oder seiner Fantasie auf die Leinwand bannte, verkündete er laut ihre Namen. Er lenkte unsere Aufmerksamkeit auf die Farben, die er wählte, die Linien, die er zog, auf die trickreiche Perspektive, die bewirkte, dass seine Grüppchen greifbarer, lebhafter Personen in real wirkenden Parks, Räumen, Palästen und Hallen agierten.
Nur das Füllwerk überließ er den Jungen für den nächsten Morgen das Ausmalen von Stoffdraperien, das Einfärben von Flügeln oder auch große Hautflächen, die sich unser Meister anschließend noch einmal für die plastische Gestaltung vornahm, solange die ölige Farbe noch feucht war, wie zum Beispiel der schimmernde Boden eines alten Palastes, der sich nach dem letzten, endgültigen Pinselstrich wie echter Marmor unter den rosig plumpen Füßen der gemalten Philosophen und Heiligen hinstreckte.
Es war nur natürlich, dass uns die Arbeit unwillkürlich fesselte. Im Palazzo gab es dutzende unfertiger Leinwände und Wandflächen, alle so lebensecht, dass sie wirkten wie Tore zu einer anderen Welt. Gaetano, einer der jüngsten Knaben, war der begabteste von uns. Doch auch die anderen - sah man von mir ab - konnten mit den Lehrjungen der übrigen Malerwerkstätten mithalten, selbst mit denen von Bellini. Manchmal hielten wir einen Empfangstag ab. Dann war Bianca in Hochstimmung, denn sie durfte für unseren Meister repräsentieren. Sie kam in Begleitung ihrer Diener und war für diesen Tag die Hausherrin. Männer und Frauen aus den edelsten Häusern Venedigs kamen, um sich die Gemälde unseres Gebieters anzusehen. Die Leute staunten über sein Talent. Erst als ich der Unterhaltung dieser Besucher lauschte, wurde mir klar, dass mein Herr fast nie etwas verkaufte, sondern dass seine Malerei nur den eigenen Palazzo schmückte, und dass er die meisten berühmten Themen auf seine eigene Art interpretierte, sei es Die Schule des Aristoteles oder Die Kreuzigung Christi. Christus! Sein Christus war der kräftige, muskulöse Mensch Christus mit den lockigen Haaren, der Christus, der wie Cupido oder
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