Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
abhielt, schaute, wenn vom Altar der San-Marco-Kirche das Hochamt zelebriert wurde, wenn die Schiffe über die glasklaren Wellen der Adria glitten. Und wie war es erst, wenn die Pinsel in die Tiegel eintauchten und die Farben aufnahmen, um sie in den irdenen Schalen zu mischen - Krapprot und Zinnober, Karmin und Kirschrot, Himmelblau, Türkis, Smaragdgrün, Ockergelb, Umbrabraun, Zitronengelb, Sepia, Dunkelviolett und ach, eine wunder-wunderschöne dickflüssige Deckfarbe, die Drachenblut hieß!
Beim Tanzen und Fechten glänzte ich. Mein bevorzugter Partner war Riccardo, und ich merkte schnell, dass ich an Geschicklichkeit ihm, dem Älteren, kaum nachstand. Bald schon übertraf ich Albinus, der diesen Platz gehalten hatte, bevor ich kam. Doch er war mir deswegen nicht böse.
Die Jungen waren alle wie Brüder zu mir. Sie nahmen mich mit in das Haus der Bianca Solderini, einer wunderschönen Kurtisane, schlank, geschmeidig und unvergleichlich charmant, mit Botticelli-Locken und mandelförmigen grauen Augen, eine Frau, die Verstand mit Hochherzigkeit und Gutmütigkeit vereinte. Ich war sozusagen die neueste Mode in ihrem Haus, und wann immer ich wollte, mischte ich mich unter die jungen Frauen und Männer, die dort stundenlang Gedichte vorlasen oder über die Kriege im Ausland redeten, die sich endlos hinzuziehen schienen. Und man sprach über die neuesten Maler, und wer wann welchen Auftrag bekommen würde. Biancas Stimme war zart und kindlich, passend zu ihrem mädchenhaften Gesicht, der winzigen Nase und dem Mund, der klein wie eine Rosenknospe war. Aber sie war klug, gewitzt und unbezähmbar. Besitz ergreifende Liebhaber wies sie eiskalt ab, sie zog es vor, das Haus zu jeder Tageszeit voller Gäste zu haben. Jeder, der angemessen gekleidet war oder ein Schwert trug, wurde ganz selbstverständlich eingelassen. Kaum jemand wurde fortgeschickt, es sei denn, er wollte sie für sich allein haben.
Auch Besucher aus Frankreich und Deutschland waren nichts Ungewöhnliches in Biancas Haus, und jeder dort, ob von nah oder fern, zeigte große Neugier, wenn es um unseren Gebieter ging, denn Marius galt als äußerst geheimnisvoll. Doch wir waren angeleitet worden, niemals auf ihn betreffende Fragen zu antworten, und wir konnten nur lächeln, wenn man uns fragte, ob er wohl eine Eheschließung in Betracht zöge, oder ob er dies oder jenes Porträt malen würde, oder ob er vielleicht zu einem bestimmten Zeitpunkt daheim wäre, wenn man ihm seine Aufwartung machen wollte.
Manchmal, wenn ich bei Bianca war, schlief ich dort auf den Polstern ihres Sofas oder gar auf einem der Betten ein, während ich den gedämpften Stimmen ihrer adeligen Besucher lauschte, oder ich träumte zu den Klängen der Musik vor mich hin, immer sehr beruhigende, gedämpfte Melodien.
Dann und wann, zu ganz seltenen Gelegenheiten, erschien auch unser Meister selbst, um Riccardo und mich abzuholen. Das löste in den Empfangsräumen immer eine kleine Sensation aus. Er lehnte es stets ab, sich zu setzten, sondern blieb stehen und nahm auch das Kopf und Schultern verhüllende Cape nicht ab. Doch er lächelte wohlwollend, wenn man ihm ein Anliegen vortrug, und manchmal bot er Bianca ein kleines Porträt an, das er von ihr gemalt hatte. Ich sehe sie noch vor mir, all die Miniaturen, die er ihr im Laufe der Jahre schenkte, jede einzelne mit Edelsteinen geschmückt.
»Es ist wunderbar, wie sehr die Bilder mir ähneln, obwohl Ihr sie aus dem Gedächtnis malt,« sagte sie, während sie zu ihm ging, um ihn zu küssen. Wie zurückhaltend er ihr begegnete, sah ich daran, dass er sie unmerklich von seiner harten, kalten Brust fernhielt. Und die Küsse, die er sacht auf ihre Wangen hauchte, erschienen ihr wie durch einen Zauber ganz sanft und lieblich, doch jede echte Berührung seiner Haut hätte diesen Eindruck zerstört. Viele Stunden las ich mit Hilfe meines Lehrers, Leonardo von Padua, sprach im gleichen Rhythmus mit ihm, und erfasste so bald schon den Aufbau der lateinischen Sprache, dann auch der italienischen, bis wir schließlich wieder zu Griechisch zurückkehrten. Mir gefiel Aristoteles ebenso wie Plato oder Plutarch oder Livius oder Vergil. Ehrlich gesagt, begriff ich nicht allzu viel von ihren Schriften. Ich hielt mich einfach an die Anordnungen unseres Herrn und speicherte, was ich lernte, in meinem Kopf.
Ich sah keinen Grund, sich wie Aristoteles endlos über die Dinge an sich auszulassen. Natürlich waren die lebhaften Berichte von Plutarch über das
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