Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
Zeus aussah.
Mir machte es nichts, dass ich nicht so gut wie Riccardo und die anderen Jungen malen konnte, ich war die meiste Zeit zufrieden, für sie die Farbtöpfe zu halten oder die Pinsel auszuwaschen oder fehlerhafte Stellen von Farbe zu befreien, damit sie korrigiert werden konnten. Ich wollte gar nicht malen. Ich wollte es nicht. Ich spürte, wie meine Hände sich bei dem bloßen Gedanken daran verkrampften, und in meinem Magen stieg eine Übelkeit auf, wenn ich es nur erwog. Ich zog es vor, mich zu unterhalten, herumzualbern, zu rätseln, warum unser Herr nie einen Auftrag übernahm, obwohl er tagtäglich Briefe erhielt, in denen man ihn ersuchte, sich um ein Wandbild im Dogenpalast oder in einer der unzähligen Kirchen der Insel zu bewerben. Stundenlang beobachtete ich das Auftragen der Farben. Ich atmete den Duft von Firnis, von Farbpigmenten und Ölen. Wenn mich hin und wieder ein betäubender Zorn überfiel, war es nicht wegen meines Mangels an Geschick. Etwas anderes quälte mich, etwas, das mit der sinnlichen, leidenschaftlichen Körperhaltung der gemalten Gestalten zusammenhing, mit ihren glühenden, rosigen Wangen, mit dem von dahinjagenden Wolkenmassen bedeckten Himmel im Bildhintergrund oder den bemoosten Zweigen der düsteren Bäume.
Diese ungezügelte Darstellung der Natur schien mir wie ein Wahnsinn. Allein, mit schmerzendem Kopf, eilte ich an den Kais entlang, bis ich eine alte Kirche fand und darin einen goldgeschmückten Altar und starre Heiligenfiguren. Düster und unbeugsam, mit eng zusammenstehenden Augen und lang gestrecktem Körper, wie ich sie an meinem ersten Tag in Venedig in der Markuskirche gesehen hatte: ein Erbe des byzantinischen Reiches. Meine Seele wand sich in unaufhörlichen Schmerzen, während ich diese Figuren in ihrer ehrwürdigen, scheinbar einzig angemessene Schicklichkeit anbetend betrachtete. Ich fluchte, wenn meine neuen Freunde mich aufstöberten, und blieb dickköpfig auf den Knien liegen. Ich weigerte mich, zu zeigen, dass ich sie bemerkt hatte. Dabei legte ich die Hände über die Ohren, um ihr Lachen nicht zu hören. Wie konnten sie mitten in der Kirche lachen, wo der gequälte Christus Blutstropfen vergoss, die wie schwarze Käfer über seine bleichen Hände und Füße liefen?
Manchmal, wenn ich meinen Genossen entkommen war, schlummerte ich vor einem solchen alten Altar ein. Ich war allein und fühlte mich glücklich auf den feuchten, kalten Steinen. Ich bildete mir ein, ich könne das Wasser unter dem Grund der Kirche hören.
Ich nahm eine Gondel nach Torcello und besuchte dort die große alte Kathedrale Santa Maria Assunta, die für ihre Mosaiken berühmt war. Manche Leute behaupteten, dass sie, trotz ihres veralteten Stils, genauso herrlich waren wie die Mosaiken von Sankt Markus. Ich schlenderte unter den niedrigen Rundbögen umher, betrachtete die alte, vergoldete Bilderwand mit den Ikonen und die Mosaiken in der Apsis. Weit oben, in der hinteren Rundung der Apsis, stand die große Statue der Jungfrau Maria, der Gottesgebärerin. Ihr Antlitz war herb, fast schon bitter. Auf ihrer linken Wange glitzerte eine Träne. Sie hielt das Jesuskind mit beiden Händen, doch auch ein Windeltuch, das Merkmal der Mater Dolorosa.
Ich verstand diese Symbolik, auch wenn sie meine Seele mit Frost überzog. In meinem Kopf drehte es sich, und die Hitze hier auf der Insel und die Sülle der Kathedrale verursachten mir Übelkeit. Aber ich blieb. Ich verweilte vor der Ikonenwand und betete.
Ich dachte, dass mich hier sicher niemand finden würde. Als es dämmerte, wurde ich wirklich krank. Ich wusste, ich hatte Fieber, doch ich zog mich in eine Ecke zurück und schaffte mir Erleichte rung, indem ich meine Hände und mein Gesicht an den kalten Steinboden schmiegte. Wenn ich den Kopf hob, sah ich vor mir die schrecklichen Szenen des Letzten Gerichts, der zur Hölle verdammten Seelen. Ich habe diese Qual verdient, dachte ich.
Doch mein Gebieter fand mich. Ich kann mich an den Weg zurück zum Palazzo nicht erinnern. Es schien, dass er nur einen kurzen Augenblick brauchte, um mich zu Bett zu bringen. Die Jungen kamen und kühlten mir die Stirn mit feuchten Tüchern und flößten mir Wasser ein. Jemand sagte, ich hätte »das Fieber« und ein anderer mahnte: »Sei still.«
Mein Gebieter wachte bei mir. Ich hatte schlimme Träume, an die ich mich, wenn ich erwacht war, nicht erinnern konnte. Vor Sonnenaufgang küsste mein Gebieter mich und drückte mich fest an sich. Nie zuvor
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