Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
als ich ihm meine Fragen vortrug. Ich stand hinter ihm, die Arme um ihn geschlungen, und stellte mich auf die Zehenspitzen, damit ich ihm ins Ohr flüstern konnte. »Sagt mir doch - Herr, Ihr müsst es mir einfach sagen -, wie habt Ihr dieses magische Blut erlangt, das in Euch fließt?« Ich biss in sein Ohrläppchen und ließ meine Finger durch sein Haar gleiten. Er hörte nicht auf zu malen. »Wurdet Ihr damit schon geboren, oder liege ich falsch, wenn ich vermute, dass Ihr umgewandelt wurdet?«
»Hör auf damit, Amadeo.« Auch er flüsterte, fuhr jedoch fort zu malen. Er arbeitete an seinem großartigen Gemälde Die Philosophenschule und tupfte mit wildem Eifer Farbe auf das Gesicht des Aristoteles, den er als älteren Mann mit Bart und schütterem Haar darstellte.
»Spürt Ihr manchmal eine Einsamkeit, Herr, die Euch drängt, jemandem, irgendjemandem etwas anzuvertrauen, einen Freund Eurer eigenen Art zu haben, dem Ihr Euer Herz ausschütten könnt und der Euch voll und ganz versteht?«
Er wandte sich um, endlich einmal von meiner Fragerei irritiert. »Und du, mein kleiner verzogener Engel«, sagte er, indem er die Stimme senkte, damit sie weiterhin freundlich klang, »du glaubst, du kannst dieser Freund sein? Du bist ein Unschuldslamm. Das wirst du dein Leben lang bleiben, naiv! Du bist im Grunde deines Herzens ein Unschuldslamm. Du weigerst dich, Wahrheiten zu akzeptieren, wenn sie nicht mit diesem tief in dir lodernden Glauben übereinstimmen, der dich auf ewig zum Mönchlein macht, zum Altardiener -« Ich trat von ihm zurück, wütend wie selten. »Nein, so bin ich nicht!«, erklärte ich. »Ich bin schon ein Mann, er ist unter dieser knabenhaften Gestalt verborgen, und Ihr wisst das. Wer denn sonst fantasiert von dem, was Ihr seid, von der Zauberkraft Eurer Fähigkeiten? Ich wünschte, ich könnte Euch einen Becher Eures Blutes abzapfen und es untersuchen, wie die Arzte es machen, um herauszufinden, woraus es besteht und wie es sich von dem unterscheidet, was durch meine Adern fließt! Ich bin Euer Zögling, Euer Schüler, ja, aber dafür muss ich ein Mann sein. Wann habt Ihr je Unschuld toleriert? Wenn wir miteinander schlafen, nennt Ihr das Unschuld? Ich bin ein Mann!« Er brach in überraschtes Gelächter aus. Es war ein Vergnügen, ihn so verblüfft zu sehen.
»Erzählt mir Euer Geheimnis, Herr«, bat ich. Ich schlang die Arme um seinen Hals und legte meinen Kopf an seine Schulter. »Hattet Ihr eine Mutter - ebenso weiß und stark wie Ihr, eine Gottesgebärerin, die Euch aus ihrem unirdischen Leib zur Welt brachte?« Er umfasste meine Arme und schob mich ein Stückchen von sich, damit er mich küssen konnte, und einen Moment lang empfand ich seinen Mund als drängend und Furcht erregend. Dann arbeitete er sich zu meiner Kehle vor, und als er an meinem Fleisch saugte, machte er mich schwach und von ganzem Herzen willig, alles zu sein, was er nur wollte. »Aus Mond und Sternen bin ich gemacht, ja, aus gleißender Weiße, dem Stoff, aus dem die Wolken und die Unschuld gleichermaßen geschaffen sind«, spottete er. »Aber ich kam nicht so aus dem Mutterleib, und das weißt du. Ich war einst ein Mensch, ein Mann, schon in mittleren Jahren. Sieh -« Er hob meinen Kopf mit seinen beiden Händen an, damit ich sein Gesicht betrachten konnte. »Hier siehst du die letzten Spuren, mit denen mich das Alter einst gezeichnet hatte, hier, die Linien in den Augenwinkeln.«
»Man sieht es kaum, Herr«, flüsterte ich in der Absicht, ihn zu trösten, falls ihn diese Unvollkommenheit kränkte. Ein Leuchten schien von ihm auszugehen, so sehr funkelte seine wie poliert glatte Haut. Die kleinste Regung blitzte auf seinem Gesicht in durchscheinendem Feuer. Stell dir eine Gestalt aus Eis vor, so perfekt wie Pygmalions Galatea, die, ins Feuer geworfen, zischt und schmilzt. Und doch bleiben ihre Formen auf wunderbare Weise intakt … nun, so sah mein Herr aus, wenn ihn so wie jetzt menschliche Emotionen überkamen. Er umfasste meine Arme mit köstlichem Druck und küsste mich abermals.
»Kleiner Mann, Männlein, Elf«, hauchte er. »Würdest du bis in alle Ewigkeit so bleiben wollen? Hast du nicht oft genug bei mir gelegen, um zu wissen, was ich genießen kann und was nicht?« Ich schaffte es, ihn zu becircen, er war mein, gefangen für die letzte Stunde der Nacht, ehe er fortging.
Doch am nächsten Abend setzte er mich in einem etwas anrüchigeren und noch luxuriöseren Freudenhaus ab, einem Haus, das für die erotischen
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