Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
aus einem Stamm, der stets seinen Willen haben müsse, so dass mir also nichts anderes übrig bliebe, als ihm nachzugeben. Wenn ich der Sohn eines großen Edelmannes wäre, sollte ich es besser gleich sagen, dann würde er sich dieses Hindernisses schon annehmen. Hasste ich vielleicht zufällig meinen Vater? Seiner sei nämlich eine Schurke. Eigentlich seien alle Harlechs Schurken gewesen, schon seit den Tagen von Eduard, dem Bekenner. Wir würden uns noch in dieser Nacht aus Venedig hinausschleichen.
»Du kennst Venedig nicht und nicht seine Edlen«, erinnerte ich ihn freundlich. »Überleg dir das Ganze noch einmal. Sie würden dich in Stücke hacken, wenn du es nur versuchtest.«
Ich merkte jetzt, dass er noch recht jung war. Ich hatte mir bisher keine Gedanken darüber gemacht, da mir alle älteren Männer alt erschienen. Er kann nicht älter als fünfundzwanzig gewesen sein. Außerdem war er verrückt.
Er sprang auf das Bett, dass die kupferfarbene Mähne flog, zog seinen Dolch, ein ansehnliches italienisches Stilett, und starrte hinunter in mein ihm zugewandtes Gesicht.
»Ich würde für dich töten«, sagte er stolz und zuversichtlich in venezianischem Dialekt. Dann bohrte er den Dolch in das Kissen, dass die Federn nur so flogen. »Und wenn es sein muss, werde ich dich töten.« Die Federn flogen ihm ins Gesicht. »Und was hast du dann davon?«, fragte ich. Hinter ihm knarrte etwas. Ich war mir sicher, dass jemand draußen am Fenster war, außen vor den verriegelten hölzernen Läden, obwohl wir drei Stockwerke über dem Canale Grande waren. Ich sagte es dem Earl, und er glaubte mir.
»Ich stamme von einer Familie mörderischer Bestien ab«, log ich ihm vor. »Sie werden dir bis ans Ende der Welt folgen, wenn du auch nur daran denkst, mich von Venedig fortzubringen. Sie werden deine Burg Stein für Stein auseinander nehmen, dich zweiteilen, dir die Zunge und den Schwanz abschneiden und beides in Samt verpackt zu deinem König schicken. Du solltest dich abregen!«
»Ach, du helles Köpfchen, du kleiner Teufel«, sagte er, »du siehst aus wie ein Engel und schwadronierst mit deiner umwerfenden, schmachtenden Männerstimme wie ein Kneipenbruder.«
»So bin ich nun mal«, sagte ich munter.
Ich stand auf und zog mich eilig an, dabei mahnte ich ihn, mich nicht jetzt und hier zu töten, denn ich würde so bald wie möglich zurückkommen, da ich mich schon jetzt danach sehnte, wieder bei ihm zu sein. Dann küsste ich ihn flüchtig und nahm Kurs auf die Tür. Er saß immer noch auf dem Bett, den Dolch hielt er fest umklammert. Bart und Schultern und den karottenroten Schöpf mit Bettfedern beschneit, bot er einen wahrhaft gefährlichen Anblick. Ich wusste nicht mehr, wie viele Nächte ich fort gewesen war. Ich fand keine Kirche mehr offen. Ich wollte keine Gesellschaft. Es war dunkel und kalt. Die Sperrstunde war angebrochen. Natürlich schien mir nach den schneereichen Gegenden des Nordens, in denen ich geboren war, der venezianische Winter mild, jedoch auch niederdrückend und feucht. Zwar reinigten die frischen Winde die Luft in der Stadt, aber dennoch war es unwirtlich und unnatürlich ruhig. Schwerer Nebel verhüllte den unendlichen Himmel. Selbst die Steine strahlten Kälte aus wie Eisblöcke. Ich setzte mich auf ein paar zum Wasser hinabrührende Treppenstufen, ohne mich um die scheußliche Feuchtigkeit zu kümmern, und brach in Tränen aus. Was hatte ich aus all dem gelernt? Ich fühlte mich auf Grund meiner neuen Erfahrungen sehr weltklug und abgehoben, doch innere Wärme hatte ich nicht gefunden, keine anhaltende Wärme, und meine Einsamkeit schien mir schlimmer als Schuldgefühle, schlimmer als das Gefühl, verdammt zu sein. Die Einsamkeit schien dieses vorherige Gefühl sogar zu ersetzen. Und so allein, wie ich war, fürchtete ich sie. Während ich zu dem winzigen schwarzen Rand des Firmaments aufblickte, zu den paar Sternen, die über die Hausdächer hinzogen, erschien es mir absolut schrecklich, beides gleichzeitig zu verlieren - meinen Herrn und meine Schuldgefühle -, irgendwohin getrieben zu werden, wo es nichts und niemanden gab, der mich liebte oder verdammte, verloren durch die Welt zu stolpern, nur mit normalen Menschen als Gefährten, den Knaben und Mädchen, und dazu diesem englischen Lord mit seinem Dolch, oder selbst nur mit meiner liebsten Bianca.
Ihr Haus war es, wohin ich schließlich meine Schritte lenkte. Ich krabbelte unter ihr Bett, wie schon einmal zuvor, und wäre am liebsten
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