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Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir

Titel: Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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dass er nicht an seiner griechischen Philosophenschule arbeitete.
    Er malte an einem Bild von mir. Auf diesem Gemälde kniete ich, dargestellt als ein Knabe der damaligen Zeit, mit den bekannten langen Locken. Ich war in ein einfaches Gewand gekleidet, als hätte ich mich von der Welt der neuesten Moden abgekehrt, ich schien unschuldsvoll und hatte die Hände zum Gebet gefaltet. Engel hatten sich rings um mich eingefunden, majestätisch und mit sanften Mienen, wie sie stets dargestellt werden, nur diesen hier hatte er schwarze Flügel verliehen. Schwarze Flügel! Große, schwarze, flaumige Flügel. Grässlich schienen sie mir, je länger ich auf diese Leinwand starrte. Grässlich, und er hatte das Gemälde schon fast fertiggestellt. Der Knabe mit dem kastanienbraunen Haar und dem unabwendbar zum Himmel erhobenen Blick schien wirklich, und die Engel erschienen heftig bewegt, doch betrübt.
    Nichts auf diesem Bild war jedoch so ungeheuerlich, dass es den Anblick meines Herrn bei dieser Arbeit übertreffen hätte: Seine Hand mit dem Pinsel fegte über die Leinwand hin, fügte Firmament und Wolken und geborstene Giebelfelder, Engelsflügel und Sonnenlicht ins Bild.
    Die Jungen hatten sich ängstlich aneinander geschmiegt, in dem festen Glauben, dass er wahnsinnig war - oder ein Zauberer? Was war es? Warum enthüllte er sich ihnen, die bisher ganz ahnungslos gewesen waren, so rücksichtslos?
    Warum stellte er derart zur Schau, was bisher unser Geheimnis gewesen war, nämlich, dass er genauso wenig ein Mensch war wie die geflügelten Wesen, die er malte? Warum hatte er, der Herr, derart die Geduld verloren, dass er sich so gebärden musste?
    In plötzlicher Wut warf er einen Farbtopf in die hinterste Ecke des Raumes. Ein dunkelgrüner Farbklecks breitete sich auf der Wand aus. Er fluchte und schrie in einer uns allen völlig unbekannten Sprache. Einen Topf nach dem anderen schleuderte er nieder, so dass die Farbe in glänzenden Bächen von dem hölzernen Gerüst tropfte, und die Pinsel, die er folgen ließ, flogen wie Pfeile durch die Luft. »Los, raus mit euch, geht ins Bett, ich will euch nicht sehen, ihr Unschuldslämmer! Geht, geht!«
    Die Lehrlinge liefen vor ihm davon. Riccardo sammelte die kleineren Jungen um sich, und alle verschwanden eilig durch die Tür. Er setzte sich nieder, ließ die Beine von dem hohen Gerüst baumeln und schaute mich an, mit einem Blick, als wüsste er nicht, wer ich bin. »Kommt herunter, Herr«, sagte ich.
    Sein Haar war wirr und hier und da mit Farbe bekleckst. Er zeigte kein Erstaunen darüber, dass ich da war, zuckte auch nicht beim Klang meiner Stimme. Er hatte gewusst, dass ich gekommen war. Er wusste solche Dinge einfach. Er konnte hören, was in den anderen Zimmern gesprochen wurde. Er kannte die Gedanken der Menschen, die in seiner Nähe waren. Er war ein Gefäß, randvoll mit magischen Kräften, und wenn ich davon trank, dann schwindelte mir.
    »Erlaubt, dass ich Euch das Haar kämme«, sagte ich. Ich war unverschämt, das war mir klar. Sein Kittel war fleckig und verschmutzt. Er hatte immer wieder seinen Pinsel daran abgewischt. Eine seiner Sandalen fiel klappernd auf den Marmorboden. Ich hob sie auf. »Herr, kommt herunter. Was ich auch gesagt habe, um Euch zu erzürnen, ich werde es nicht wieder sagen.«
    Er antwortete einfach nicht.
    Mit einem Mal schoss all die aufgestaute Wut in mir auf, zusammen mit dem Gefühl der Verlassenheit, weil ich so lange Tage von ihm getrennt gewesen war, dabei war ich doch seinen ausdrücklichen Befehlen gefolgt, und nun, nachdem ich heimgekommen war, starrte er mich nur wütend an und schenkte mir kein Vertrauen. Ich wollte es nicht hinnehmen, dass er wegschaute und mich übersah, als wäre ich gar nicht da. Er sollte zugeben, dass ich der Grund für seinen Zorn war. Er sollte sprechen.
    Am liebsten hätte ich geweint.
    Sein Gesicht verzerrte sich schmerzlich. Ich konnte das nicht mit ansehen, ich mochte nicht denken, dass er Schmerz empfand wie ich, wie die anderen Jungen. Wilde Rebellion stieg in mir auf. »Du versetzt uns alle selbstsüchtig in Angst, Herr und Meister!«, warf ich ihm an den Kopf.
    In völliger Aufregung verschwand er, ohne mich zu beachten, nur seine Schritte hörte ich durch die leeren Räume hallen. Mir war bewusst, dass er sich mit einer Geschwindigkeit bewegt hatte, die kein Mensch erreichen konnte. Ich lief hinter ihm her, hörte aber nur noch die Schlafzimmertür zuschlagen und das Geräusch des sich schließenden

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