Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
glänzenden Boden. Der Fußboden war wie die See, plötzlich ganz transparent wie Seide, und hoch über ihm die gemalten Wolken, in grenzenloser, lieblicher Bläue schwimmend. Ein Dunst schien von ihnen auszuströmen, ein warmer, sommerlicher Dunst, der aus Land und See gleichermaßen aufstieg.
Wieder schaute ich auf das Bild. Ich ging sogar hin und streckte die Hände danach aus, starrte hinauf zu den weißen Burgen, die die Hügelkuppen krönten, zu den schlanken, beschnittenen Bäumen, zu der wild wuchernden Natur, die so geduldig abwartete, dass mein kristallklarer Blick sich schwerfällig auf sie richtete.
»So vieles!«, flüsterte ich. Worte konnten diese satten Farben nicht beschreiben, das Braun und Gold, aus denen die Barte dieser aus fernen Ländern kommenden Könige zusammengesetzt waren, nicht die Schatten, die auf dem Kopf des weißen Pferdes spielten oder auf dem Gesicht des Mannes mit dem schütteren Haar, der es führte, und nicht die Geschmeidigkeit der Kamele mit ihren gebogenen Hälsen, die Masse zerdrückter Blumen unter geräuschlos dahinschreitenden Füßen. »Ich kann es mit meinem ganzen Sein sehen«, seufzte ich. Ich schloss die Augen und lehnte mich gegen das Bild, rief mir jede winzige Ansicht in ihrer ganzen Vollkommenheit vor Augen, indem das Gefäß meines Geistes zu dem Raum selbst wurde, und ich glaubte, das Bild selbst gemalt zu haben. »Ich sehe es, ohne auch nur eine Stelle auszulassen. Ich sehe es ganz und gar«, flüsterte ich. Ich spürte, wie mein Herr seinen Arm um mich legte, wie er einen KUSS auf mein Haar drückte.
»Kannst du die gläserne Stadt noch einmal sehen?«, fragte er. »Das schaffe ich bestimmt!«, rief ich. Ich ließ meinen Kopf gegen seine Brust sinken, öffnete die Augen und sog aus dem wilden Farbgewirbel des Gemäldes genau die Farben, die ich benötigte. Und dann ließ ich in meiner Vorstellung diese Metropole aus aufsprudelndem, hochschießendem Glas erstehen, bis ihre Türme den Himmel durchstießen. »Da ist sie, kannst du sie sehen?«
Mit sich überschlagenden Worten und unter Lachen beschrieb ich sie ihm, die glitzernden grünen und gelben und blauen Türme, die ihre sprühenden, verschwimmenden Farben in das himmlische Licht entsandten. Und noch einmal rief ich: »Siehst du sie?«
»Nein. Aber du kannst sie sehen«, sagte mein Herr. »Und das genügt vollauf.«
In der dämmerigen Kammer kleideten wir uns an.
Nichts machte Mühe, nichts hatte sein früheres Gewicht, seinen früheren Widerstand. Ich schien meine Finger nur an meinem Wams auf und niedergleiten lassen zu müssen, und schon war es zugeknöpft. Dann eilten wir die Stufen hinab, als seien sie gar nicht da, und verschwanden in der Nacht. Es war ein Klacks, die schleimigen Wände des Palazzo zu erklettern, meine Füße wieder und wieder in Mauerrisse zu stemmen. Pflanzen, ein Farnbüschel oder den Ast eines Schlinggewächses als Stütze zu nutzen, während ich nach den Gitterstäben eines Fensters griff. Als ich schließlich den Verschluss öffnete, war auch das ein Kinderspiel - und wie einfach ich das metallene Gitter in das schimmernde, grüne Wasser unter mir fallen ließ! Wie hübsch, es eintauchen zu sehen, das Wasser aufspritzen zu sehen, wie hübsch das Glitzern der Fackeln auf dem Wasser…
»Ich falle gleich hinein.«
»Komm her.«
In dem Gemach vor uns erhob sich ein Mann von seinem Pult. Gegen die Kälte hatte er seinen Hals mit einem wollenen Tuch geschützt. Sein dunkelblauer Anzug war mit goldener Perlenstickerei umsäumt. Reich, ein Bankier. Ein Freund des toten Florentiners, der über seinen Verlust nicht sonderlich trauerte. Während er im Dunsthauch schwarzer Tinte über seinen Pergamentseiten brütete, rechnete er sich seinen endgültigen Gewinn aus, jetzt, wo alle seine Partner bei einem intimen Bankett durch Klinge oder Gift hingemordet waren. Erriet er, dass wir die Täter waren, der Mann mit dem roten Umhang und der Knabe mit dem kastanienbraunen Haar, die in dieser frostig kalten Winternacht durch sein Fenster im vierten Stockwerk eindrangen?
Ich packte ihn mir, als sei er die Liebe meines jungen Lebens, zog ihm den Schal vom Hals und legte die Arterie frei, an der ich mich gütlich tun würde.
Er flehte mich an, aufzuhören, meinen Preis zu nennen. Wie ruhig mein Herr zusah, nur mich beobachtete, während der Mann bettelte und ich einfach nicht hinhörte, sondern nur nach dieser dicken, pochenden, unwiderstehlichen Ader tastete!
»Euer Leben, mein Herr,
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