Chronik der Vampire 06 - Armand der Vampir
in sein Fleisch, durchbohrte es, dass das Blut über meine Lippen schäumte. Sofort presste ich den Mund darüber. Meine Augen fielen zu, hinter den Lidern sah ich die wilde Steppe, das sich neigende Gras, den blauen Himmel, und meinen Vater in wildem Ritt, mit dem kleinen Trupp der Verfolger hinter sich. War ich dabei? »Ich habe gebetet, dass du entkommst!«, rief er mir lachend zu, »und du hast es geschafft. Verdammt seist du, Andrei. Verdammt seist du, samt deiner scharfen Zunge und deinen magischen Künstlerhänden. Verdammt seist du, du vorlauter, junger Hund, verdammt seist du!« Und dabei hörte er nicht auf zu lachen, während er weiterritt und sich das Gras unter ihm neigte.
»Vater, sieh!« Ich wollte rufen. Ich wollte, dass er die steinernen Ruinen der Burg sah. Doch mein Mund war voller Blut. Sie hatten Recht behalten. Fürst Feodors Burg war zerstört, er selbst längst Geschichte. Das Pferd meines Vater bäumte sich plötzlich, als es den ersten schlingpflanzenbewachsenen Steinhaufen erreichte. Und dann fühlte ich den wunderbar warmen Marmorboden, auf dem ich lang ausgestreckt lag, die Hände gegen die Fliesen gepresst. Ich richtete mich auf. Das wimmelnde rosafarbene Muster des Steins war so verdichtet, so steif, so seltsam, es war, als habe man gefrorenes Wasser als Stein benutzt. Ich hätte meinen Blick für immer in seiner Tiefe ruhen lassen können.
»Steh auf, Amadeo, trink noch einmal.«
Ach, diesmal war es so einfach, mich an ihm hochzuziehen, nach seinem Arm zu greifen, mich an seine Schulter zu klammern. Ich durchstieß die Haut an seiner Kehle. Ich trank. Das Blut rauschte durch mich hindurch, blitzartig leuchtete der Umriss meines eigenen Körpers vor der Schwärze meines Geistes. Ich sah diesen Knabenkörper, der mir gehörte, sah Arme und Beine, während ich mit dieser gleichen Gestalt in der Wärme und dem Licht, das mich umfing, lebte und atmete, als ob mein ganzes Selbst ein einziges, mit vieltausenden von Poren versehenes Organ zum Sehen, Hören und Atmen geworden wäre. Ich atmete mit Millionen und Abermillionen winziger, kräftiger Münder.
Ich hatte so viel Blut getrunken, dass ich nichts mehr fassen konnte. Ich stand vor meinem Herrn. In seiner Miene entdeckte ich ein kaum merkliches Anzeichen von Erschöpfung, in seinen Augen ein wenig Schmerz. Und zum ersten Mal sah ich die Linien, die sein Leben als Mensch in sein Gesicht gezeichnet hatten, die zarten, unvermeidlichen Fältchen in den Winkeln seiner heiteren, gelassenen Augen. Als er sich bewegte, glitt das Licht über den Faltenwurf seines Gewandes und ließ es aufleuchten. Er streckte den Zeigefinger aus, wies auf das Gemälde Der Zug der Heiligen drei Könige.
»Deine Seele und dein Körper sind nun für immer unlösbar miteinander verbunden«, sagte er. »Und durch deine vampirischen Sinne, durch Sehen und Fühlen, durch Riechen und Schmecken, wirst du dir die ganze Welt erschließen. Nicht, indem du dich von ihr abwendest und hin zu den finsteren Zellen aus Erde, sondern indem du deine Arme der unendlichen Herrlichkeit öffnest, wirst du den vollendeten Glanz der Schöpfung Gottes erkennen und die Wunder, die Menschenhände durch Sein Entgegenkommen schaffen.« Die in Seide gewandeten Menschenströme auf dem Gemälde schienen sich zu bewegen. Wieder hörte ich die Pferdehufe auf der weichen Erde, das Schlurfen beschuhter Füße. Abermals glaubte ich die Hunde in weiter Ferne den Berghang entlangspringen zu sehen. Die blühenden Büsche regten sich unter der Berührung des vorbeiziehenden, güldenen Menschenstroms. Ich sah, wie Blütenblätter von den Blumen niedersanken. Wunderbare Tiere huschten munter durch den dichten Wald. Ich sah den stolzen Lorenzo hoch zu ROSS sein jugendliches Haupt wenden und mich ansehen, wie zuvor. Und weiter und weiter öffnete sich die Landschart hinter ihm, diese Welt mit ihren steinigen Felsklippen, den Jägern auf ihren braunen Pferden und den aufgeregt hin und her springenden Hunden.
»Es ist für immer dahin, Herr«, sagte ich - und wie voll und hallend meine Stimme war, im Einklang mit allem, allem, was ich hier sah. »Was meinst du damit, mein Kind?«
»Russland, dieses Land der Steppen, das Land, in dem es jene finsteren, schrecklichen Zellen in der guten Mutter Erde gab.«
Ich drehte mich im Kreis. Aus dem Wald brennender Kerzen stieg Rauch auf. Wachs floss und tropfte über das ziselierte Silber der Halter, in denen sie steckten, tropfte selbst auf den fleckenlosen,
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