Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
Verzweiflung sein können. Wie sehr wollte ich selbst an Lestats sichtbare Engel glauben oder an Armands Blick auf die kristallene himmlische Herrlichkeit? Wie sehr projizierte ich selbst mein neues, heftig beklagtes Gewissen auf die scheinbare Leere und mühte mich wieder und wieder, meiner Liebe zum Schöpfer des Windes, der Gezeiten, des Mondes und der Sterne Ausdruck zu verleihen? Ich war nicht fähig, meine irdische Existenz zu beenden. Ich hatte ebenso viel Angst wie jeder Sterbliche, dass ich die einzige übernatürliche Erfahrung aufgeben würde, die kennen zu lernen ich das Privileg hatte. Und dass Louis dahinscheiden könnte, schien einfach entsetzlich, etwa so, als sähe man eine exotische, giftige Blüte, die im Dschungel von ihrem verborgenen Stängel fällt und unter den Füßen zertreten wird.
Hatte ich Angst um ihn? Ich war mir nicht sicher. Ich liebte ihn, ich wünschte mir, er wäre in dem Moment bei uns in diesem Zimmer gewesen. Wirklich. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich die moralische Kraft hatte, ihn dazu zu überreden, auch nur weitere vierundzwanzig Stunden in dieser Welt auszuharren. Ich war mir über ga r nichts mehr sicher. Ich wollte ihn als Gefährten, als Spiegel meiner Gefühle, als Zeugen meines ästhetischen Fortschritts. Ich wollte, dass er der ruhige, sanfte Louis blieb, den ich kannte. Und wenn er sich dafür entschied, nicht mehr mit uns gemeinsam weiterzuschreiten, wenn er sich tatsächlich das Leben nahm, indem er sich der Sonne aussetzte, dann wäre es für mich nur umso härter, weiterzuleben, selbst angesichts meiner Furcht. Merrick zitterte plötzlich am ganzen Körper. Sie hörte und hörte nicht auf zu weinen. Ich gab meinem Verlangen, sie zu küssen, nach, und atmete den Duft ihres warmen Fleisches ein. »Na, na, mein Liebes«, flüsterte ich.
Das kleine Taschentuch, das sie mit der rechten Hand umklammerte, war ganz nass.
Ich zog meinen Arm unter ihr fort, um aufzustehen, dann schob ich den schweren weißen Chenilleüberwurf zur Seite und legte Merrick auf die frischen Laken. Ihr beflecktes Kleid war mir gleichgültig! Sie fror und war verängstigt. Ihr Haar lag in wirren Strähnen unter ihr. Ich hob ihren Kopf an und breitete das Haar auf dem Laken aus. Sie sank in die Daunenkissen, und ich küsste sie auf die Augenlider, damit sie sie schloss.
»Ruh dich aus, mein liebster Schatz«, sagte ich, »du hast schließlich nur getan, worum Louis bat.«
»Lass mich jetzt nicht allein«, sagte sie heiser, »es sei denn, du glaubst, du könntest ihn finden. Wenn du weißt, wo er ist, dann hol ihn. Sonst bleib bei mir, nur für eine Weile noch.« Ich ging auf der Suche nach einem Badezimmer den Korridor entlang, an dessen Ende ich tatsächlich ein geräumiges und recht üppig ausgestattetes Bad fand, in dem es sogar einen kleinen, mit Kohlen befeuerten Kamin gab sowie eine große Badewanne mit Löwenfüßen. Wie angesichts solchen Luxus’ zu erwarten, gab es auch einen Stapel reiner weißer Frotteetücher. Ich nahm eines, befeuchtete die eine Hälfte und nahm es mit in den vorderen Raum. Merrick lag mit angezogenen Knien auf der Seite und hatte die Hände gefaltet. Gedämpftes Flüstern drang von ihren Lippen. »Komm, lass dir das Gesicht reinigen«, sagte ich. Sie fügte sich bedingungslos, und dann wischte ich auch noch das getrocknete Blut von ihrem Arm. Die Kratzer zogen sich vom Handgelenk bis zur Ellbogenbeuge, waren jedoch nicht sehr tief. Einer blutete ein wenig, während ich ihn reinigte, aber als ich kurz das Handtuch darauf presste, versiegte das Blut.
Mit der trockenen Seite des Handtuchs tupfte ich Merrick das Gesicht ab und anschließend die Wunden, die nun ganz sauber und trocken waren.
»Ich kann hier nicht so liegen bleiben«, sagte Merrick. Sie warf den Kopf von einer Seite zur anderen. »Ich muss die Knochen aus dem Hof hereinholen. Es war schrecklich, dass ich die Opfertische umgestoßen habe.«
»Bleib jetzt still liegen«, sagte ich. »Ich hole sie.« Eigentlich verspürte ich heftigen Widerwillen dagegen, aber ich tat, was ich versprochen hatte. Ich ging zurück zum Schauplatz des Verbrechens. Der dunkle Hinterhof schien ungewöhnlich still. Die verloschenen Kerzen vor den Heiligenfiguren zeugten von Nachlässigkeit und schweren Sünden. Aus den Sachen, die von den Eisentischen gefallen waren, suchte ich Honeys Schädel heraus. Dabei lief mir plötzlich eine eisige Kälte durch die Hände, aber das schob ich auf meine Einbildungs kraft. Ich
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