Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
Musik meine Nerven beruhigen konnte. Ich wollte Lestat sehen und mich um ihn kümmern, wollte Louis treffen und ihm alles erzählen. Aber jetzt kam nur eins in Frage: sofort zurück in das Hotel zu fahren. Ich konnte nicht in unsere Wohnung, solange ich mit diesem »Zauber« behaftet war, und ich musste ihm an seinem Ursprung Einhalt gebieten.
Ich eilte zur Rue Decateur, fand ein Taxi und schwor mir, nichts und niemandem auch nur einen Blick zu schenken, ehe ich Merrick von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Ich wurde langsam wirklich zornig.
Tief in Gedanken versunken, ertappte ich mich dabei, wie ich Schutzzauber vor mich hin murmelte und die Geister beschwor, mir nicht zu schaden, sondern mich zu beschützen, aber ich glaubte nicht so recht an diese alten Formeln. Woran ich allerdings glaubte, weil ich sie schon mit eigenen Augen gesehen hatte und nie vergessen würde, das waren Merricks Fähigkeiten.
Ich eilte die Treppen zu ihrer Suite hinauf und schob den Schlüssel ins Türschloss. Als ich in den Salon kam, sah ich als Erstes flackerndes Kerzenlicht und roch einen sehr angenehmen Duft, den ich schon in früheren Jahren mit Merrick in Verbindung ge bracht hatte. Es war das Aroma von Floridawasser, das an frisch geschälte Orangen erinnerte - ein Aroma, das sowohl die Voodoo-Göttin Ezili liebte als auch eine ähnlich benannte Candomble-Göttin.
Die Kerze entdeckte ich auf einer hübschen Kommode direkt gegenüber der Tür. Es war ein Votivlicht, das auf den Grund eines Wasserglases gesetzt worden war, und dahinter stand eine schöne, etwa fünfzig Zentimeter hohe Gipsfigur vom heiligen Petrus mit dem Himmelsschlüssel. Sie hatte einen dunklen Teint und Augen aus hellem bernsteinfarbenen Glas und war in ein hellgrünes, mit Gold gesäumtes Gewand gekleidet. Ihr purpurner Umhang war noch aufwändiger mit Gold verbrämt. Die Figur hielt nicht nur die sprichwörtlichen Schlüssel zum Himmelreich in der linken Hand, sondern in der rechten auch noch ein großes Buch.
Ich war völlig entgeistert. Meine Nackenhaare stellten sich auf. Denn natürlich wusste ich, dass das nicht einfach der heilige Petrus war, nein, diese Statuette stellte außerdem den Papa Legba des Voodoo-Kultes dar, den Gott des Scheidewegs, den Gott, der die spirituellen Reiche aufschließen muss, wenn man will, dass ein Zauber wirkt.
Bevor man mit einem Zauber, einem Gebet oder einem Opfer beginnt, muss man erst einmal Papa Legba seine Achtung erweisen. Und derjenige, der diese Figur produziert hatte, wusste das. Was für eine Erklärung hätte es sonst für den dunklen Teint des Heiligen gegeben, der ihn als Farbigen auswies, oder für das geheimnisvolle Buch? Er hatte seine Entsprechung im Candomble, wo ich ihn so oft ehrerbietig begrüßte. Dies war ein orisha oder Gott, der Exu genannt wurde. Und in jeder Candomble-Kultstätte hätte man eine Zeremonie damit eingeleitet, dass man ihm seinen Gruß entbot. Ich starrte die Statuette und die Kerze an, und die Gerüche jener brasilianischen Tempel mit ihren festgestampften Lehmböden stiegen mir wieder in die Nase. Ich hörte die Trommeln, ich roch die Speisen, die als Opfer dargeboten wurden. Ich wehr te mich nicht einmal gegen diese Empfindungen. Auch andere Erinnerungen kamen mir, Erinnerungen an Merrick.
»Papa Legba«, flüsterte ich deutlich hörbar. Ich beugte sogar den Kopf ganz leicht und spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. »Exu«, flüsterte ich. »Nichts von dem, was ich hier tue, soll dich beleidigen.«
Ich sprach ein kurzes Gebet auf Portugiesisch, das ich vor langer Zeit gelernt hatte und in dem ich ihn bat, er möge mir nicht den Zutritt verwehren, welches Reich auch immer er gerade geöffnet hatte, da ich ebenso große Achtung für ihn hegte wie Merrick. Das Bildnis verharrte natürlich bewegungslos. Die hellen, gläsernen Augen starrten direkt in meine Augen, aber selten nur hatte ich etwas eigentlich Lebloses gesehen, das mir auf eine derart hinterhältige, unerklärliche Weise lebendig vorkam. Ich werde langsam verrückt, dachte ich. Und dennoch schließlich hatte ich Merrick aufgesucht, damit sie Zauberei betrieb, nicht wahr? Und ich kannte Merrick, oder? Nur solche Tricks hatte ich nicht erwartet!
Wieder sah ich vor meinem geistigen Auge den Tempel in Brasilien, wo ich monatelang ausgebildet worden war, wo ich gelernt hatte, welches die richtigen Blätter für eine Opfergabe waren, wo ich die Mythen der Götter kennen gelernt hatte. Und wo ich
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