Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
Liebe, ich bin beeindruckt. Du hast seit dem letzten Mal noch ein paar Tricks dazugelernt. Aber du musst mir die Gründe für diesen Zauber erklären. Ich habe die von Aaron verfassten Papiere an mich genommen. Außerdem habe ich mein Taschentuch und den Füller wieder in meinen Besitz gebracht. Bleib hier im Hotel, solange du magst. David«
Das war kurz, aber ich fühlte mich nach diesem kleinen Missgeschick nicht sonderlich gesprächig. Außerdem hatte ich die unangenehme Empfindung, dass Papa Legba mich von seinem geplünderten Schrein her wütend ansah. In einem Anfall von Gehässigkeit fügte ich ein Postskriptum hinzu: »Aaron hatte mir diesen Füllfederhalter geschenkt.« Das war deutlich genug.
Doch dann ging ich ziemlich besorgt noch einmal zu dem Altar zurück.
Mit hastigen, zunächst portugiesischen, dann lateinischen Worten ehrte ich abermals den Geist in der Statue, der das spirituelle Reich aufschließen konnte. Ich sprach sehr schnell: Öffne mir den Weg zum Verstehen, bat ich, und werte, was ich tue, nicht als Beleidigung, denn ich wünsche mir nur Wissen und will nicht respektlos sein. Sei gewiss, dass ich deine Macht erkenne. Sei gewiss, dass ich ein ehrliches Wesen bin.
Ich tat dem Geist in der Statue kund, dass ich dem orisha oder Gott geweiht war, der Oxalá genannt wird, dem Gott der Schöpfung. Ich erklärte, dass ich auf meine Art immer an diese Gottheit geglaubt hatte, wenn ich mich auch nicht immer an alle Kleinigkeiten gehalten hatte, die man vorschriftsmäßig tun sollte. Trotzdem liebte ich diesen Gott, ich liebte die Erzählungen über ihn und seine Persönlichkeit. Alles, was ich von ihm wusste, war mir lieb. Mich überkam ein hässliches Gefühl. Wie konnte ein Bluttrinker dem Herrn der Schöpfung gegenüber glaubwürdig sein? Sundigte ich nicht jedes Mal gegen Oxala, wenn ich Blut trank? Ich zögerte, doch ich nahm keins meiner Worte zurück. Meine Gefühle gehörten Oxalá, wie schon vor vielen Jahren in Rio de Janeiro. Oxalá gehörte mir und ich ihm. »Schütze uns bei unserem Vorhaben«, flüsterte ich. Dann, bevor ich den Mut verlor, löschte ich die Kerze, hob die Statuette an und setzte sie, nachdem ich das Taschentuch an mich genommen hatte, behutsam wieder ab. Ich murmelte: »Leb wohl, Papa Legba«, und wollte die Suite verlassen. Doch dann, gegenüber der Tür zum Korridor stehend, mit dem Rücken zum Altar, konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich konnte mich nicht rühren. Oder vielleicht war es eher so, als sollte ich mich nicht rühren. Ganz langsam leerte sich mein Geist. Wenn überhaupt auf irgendetwas, konzentrierte ich mich auf meine physischen Sinne, wandte mich um und schaute zu der Tür, durch die ich hereingekommen war.
Es war die alte Frau, die gebrechliche, winzige Gestalt der Großen Nananne, die mich mit leicht zur Seite geneigtem Kopf fixierte, während sich ihre Finger um den Türpfosten klammerten. Dabei bewegte sich ihr fast lippenloser Mund, als rede sie flüsternd mit sich selbst oder mit irgendeiner unsichtbaren Person. Ich sog den Atem ein und starrte sie an. Sie zeigte kein Anzeichen von Schwäche, diese winzige Erscheinung, diese klitzekleine alte Frau, die mich, ihren brabbelnden Lippen zum Trotz, mit festem Blick betrachtete. Sie trug ein blass geblümtes Flanellnachthemd, das von oben bis unten voller Flecken war, Kaffee vielleicht oder verwaschene Blutstropfen. Mir wurde sehr intensiv bewusst, dass die Erscheinung sich verfestigte und immer mehr körperliche Details zeigte.
Ihr Füße waren nackt, und ihre Zehennägel hatten die Farbe vergilbter Knochen. Ihr graues Haar war nun deutlich zu sehen, als fiele der Strahl einer Lampe darauf, und ich sah die Adern, die sich über ihre Schläfen zogen, und die Adern auf der Hand. So sahen nur sehr alte Leute aus. Die Frau hatte sich nicht verändert, seit ich ihren Geist in der Zufahrt gesehen hatte, und auch nicht seit dem Tag, als sie starb. Ich erinnerte mich sogar an das Nachthemd, an die Flecken darauf. Ich erinnerte mich an die Flecken darauf! Das Gewand hatte ihren sterbenden Körper umhüllt, es war frisch gewaschen gewesen und hatte dennoch diese Flecken aufgewiesen. Jetzt brach mir wirklich der Schweiß aus, und ich konnte keinen Muskel bewegen, nur sprechen konnte ich. »Glauben Sie, ich wollte ihr etwas antun?«, flüsterte ich. Die Gestalt veränderte sich nicht. Der kleine Mund war immer noch in Bewegung, aber ich vernahm nur ein leises, zischelndes Geräusch, wie von einer
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