Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
bei der Arbeit. Erst ungefähr sechs oder sieben Monate später wiederholte sich das Ganze. Aber selbst wenn sie bei gesellscha ftlichen Anlässen Alkohol zu sich nahm, hielt sie nicht inne, ehe sie betrunken war. Dann schüttete sie Rum oder süßen Likör in Form von ausgefallenen Mixgetränken in sich hinein. Gemäßigtem Trinken konnte sie keinen Reiz abgewinnen. Wenn wir im Mutterhaus ein großes Dinner veranstalteten, und das war oft der Fall, blieb sie entweder abstinent, oder sie trank bis zur Bewusstlosigkeit. Für Wein hatte sie nichts übrig.
Nun, jetzt war sie bewusstlos. Und wenn es mir gelungen wäre, sie zu wecken, wäre es wohl zur offenen Schlacht zwischen uns gekommen.
Ich trat noch einmal zum heiligen Petrus oder zu Papa Legba auf seinem provisorischen Voodoo-Schrein und betrachtete ihn. Ich musste meine Furcht vor dieser kleinen Wesenheit, diesem geschnitzten Bildnis, unbedingt überwinden. Ha, wie verblüfft war ich, als ich die Statuette noch einmal begutachtete: unter ihr und der Kerze war mein Taschentuch aus gebreitet, und daneben lag mein eigener altmodischer Füllhalter! Das war mir zuvor überhaupt nicht aufgefallen. »Merrick!«, fluchte ich wütend.
Hatte sie nicht im Auto meine Stirn abgerupft? Wütend betrachtete ich das Taschentuch. Natürlich, da waren ein paar kleine, verschmierte Blutstropfen zu sehen - der Schweiß von meiner Stirn! Und den hatte sie für ihren Zauber gebraucht! »Ha, nicht zufrieden mit einem meiner Wäschestücke, nein, es musste auch noch meine Körperflüssigkeit sein!« Ich marschierte in den Schlafraum zurück und machte einen weiteren sehr wenig vornehmen Versuch, sie aus ihrer Trunkenheit zu wecken. Ich richtete mich sogar auf ein Gerangel ein, aber es war sinnlos. Also legte ich sie schließlich sanft nieder, fuhr ihr zärtlich mit den Fingern durch das Haar und registrierte auch jetzt wieder - trotz meiner Verärgerung -, wie hübsch sie war. Ihre markanten Wangenknochen zeichneten sich unter der weichen, leicht gebräunten Haut ab, und ihre Wimpern waren so lang, dass sie deutliche Schatten auf ihr Gesicht warfen. Die dunkle Farbe der Lippen kam nicht von einem Lippenstift. Ich zog Merrick die schlichten Ledersandalen aus und stellte sie neben das Bett, aber nicht, weil ich freundlich sein wollte, sondern weil ich einen Vorwand suchte, sie noch einmal zu berühren. Mit einem flüchtigen Blick auf den Schrein im Salon zog ich mich schließlich vom Bett zurück und sah mich nach ihrer Tasche um, diesem geräumigen Leinenbeutel.
Er lag weit geöffnet auf einem Stuhl und enthüllte, wie ich es erhofft hatte, einen dicken Umschlag, auf dem Aarons unverwechselbare Handschrift prangte. Also, sie hatte mein Taschentuc h und meinen Füller entwendet, war es nicht so? Sie hatte sich mein Blut beschafft, ausgerechnet mein Blut, das niemals der Talamasca in die Hände fallen durfte. Und wie ein Schuljunge war ich während der ganzen Zeit nur damit beschäftigt gewesen, sie zu küssen. Da hatte ich doch wohl jetzt das Recht, diesen Umschlag aus ihrer Tasche in Augenschein zu nehmen! Außerdem hatte sie mich schließlich gefragt, ob ich die Dokumente haben wollte. Also würde ich sie mir nehmen.
Ich schnappte mir den Umschlag, öffnete ihn, vergewisserte mich, dass er wirklich Aarons Papiere über mich und meine Abenteuer enthielt, und beschloss, diese mitzunehmen. Ansonsten befanden sich in Merricks Tasche nur noch ihr eigenes Tagebuch, in dem zu lesen ich kein Recht hatte und das höchstwahrscheinlich in einer unleserlichen französischen Kurzschrift geschrieben war. Außerdem eine Pistole mit Perlmuttgriff, eine prall gefüllte Geldbörse, eine teure Zigarre der Marke Monte Christo und eine flache, kleine Flasche, die das Floridawasser enthielt.
Die Zigarre gab mir zu denken. Sicherlich wollte sie die nicht selbst rauchen, die war für die kleine Papa-Legba-Figur bestimmt. Merrick hatte die Statuette, die Zigarre und das Floridawasser mitgebracht. Also hatte sie sich auf irgendeine Art Beschwörung vorbereitet. Ah, das versetzte mich in Wut, aber hatte ich das Recht, dagegen zu wettern?
Ich ging in den Salon zurück und nahm meinen Füller von dem provisorischen Altar, wobei ich es wohlweislich vermied, der Statue mit ihrem anscheinend so lebendigen Ausdruck in die Augen zu sehen. Ich entdeckte das hoteleigene Briefpapier in der mittleren Schublade eines edlen französischen Sekretärs, setzte mich und schrieb eine kurze Nachricht:
»In Ordnung, meine
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