Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
schließlich auch, nach endlosen Monaten der Mühe, gelernt hatte, zusammen mit den anderen im Tanz zu schreiten immer rechts herum - und jede einzelne Gottheit mit Gesten und Tanzschritten ehrerbietig zu grüßen, bis man in eine Raserei geriet, bis ich fühlte, wie die Gottheit in mich eindrang, mich in Besitz nahm … Und dann das anschließende erinnerungslose Erwachen und das erhebende Gefühl völligen Ermattens, derweil einem gesagt wurde, dass ma n ganz und gar besessen gewesen sei.
Was hatte ich erwartet? Was sollten wir hier tun, wenn nicht die alten Mächte herbitten? Und wer, wenn nicht Merrick, kannte meine früheren Kräfte und Schwächen?
Ich konnte kaum meinen Blick vom Gesicht der Statue wenden. Doch schließlich gelang es mir.
Ich zog mich zurück wie jemand, der ein Heiligtum verlässt, und huschte in das Schlafzimmer. Wieder atmete ich den frischen Zitrusduft des Floridawassers ein, zusammen mit dem Aroma von Rum.
Was war mit ihrem Lieblingsparfüm, Chanel No. 22? Benutzte sie es nicht mehr? Der Duft des Floridawassers war sehr intensiv. Merrick lag schlafend auf dem Bett. Sie sah aus, als hätte sie sich überhaupt nicht bewegt. Erst jetzt, in diesem Augenblick, fiel mir auf, wie sehr ihr weißes Kleid dem klassischen Gewand der Candomble-Frauen glich. Es fehlte nur noch der Turban auf ihrem Kopf, um das Bild zu vervollständigen.
Die neue Rumflasche stand geöffnet auf dem Tischchen neben ihr. Ein Drittel hatte sie schon getrunken. Sonst hatte sich, soweit ich sehen konnte, nichts verändert. Der Geruch nach Alkohol war durchdringend, was hieß, dass sie den Rum wahrscheinlich zwischen den Zähnen hindurch in die Luft gesprüht hatte, als ein Opfer an den Gott.
Im Schlaf sah sie vollkommen aus, wie viele Menschen, wenn sie ganz entspannt sind. Sie schien ganz sie selbst zu sein. Mir wurde plötzlich klar, dass sie genau dieses makellose Antlitz haben würde, wenn man sie zu einem Vampir machte. Angst und Entsetzen erfüllten mich ob der unvermittelten Erkenntnis, dass ich ohne fremde Hilfe ihr oder jedem anderen Menschen diesen Zauber - die Umwandlung in einen Vampir gewähren konnte. Und zum ersten Mal verstand ich, welch ungeheuerliche Versuchung darin eingeschlossen war. Doch natürlich würde Merrick nichts dergleichen widerfahren. Merrick war mein Kind. Merrick war meine … Tochter. »Merrick. Wach auf!«, sagte ich scharf. Ich fasste sie an der Schulter. »Du wirst mir jetzt diese Erscheinungen erklären. Wach auf!« Keine Antwort. Sie schien sturzbetrunken zu sein. »Merrick, werde wach!«, sagte ich, dieses Mal sehr ungehalten, während ich ihre Schultern mit beiden Händen anhob. Doch ihr Kopf sank haltlos zurück. Der Duft des Chanel-Parfüms stieg von ihr auf. Ah, das war der Geruch, den ich so liebte … Gequält wurde ich mir ihrer Brüste bewusst, die der tiefe Aus schnitt ihrer Bluse freizügig zeigte. Ich ließ Merrick auf das Kis sen zurücksinken.
»Warum hast du das alles gemacht?«, fragte ich den reglosen Körper der schönen Frau. »Was hattest du dabei im Sinn? Glaubst du, du könntest mich einschüchtern und verscheuchen?« Aber es hatte keinen Zweck. Sie spielte mir nichts vor. Sie war völlig weggetreten. Ich konnte weder Träume noch Gedanken in ihrem Geist finden. Und als ich rasch die Minibar des Zimmers untersuchte, entdeckte ich, dass sie mehrere Fläschchen Gin ausgetrunken hatte.
»Typisch Merrick«, sagte ich leicht verärgert. Immer schon hatte sie zeitweise exzessiv getrunken. Sie pflegte monatelang sehr hart und ohne Pause zu arbeiten, sei es an ihren Studien oder in der Feldarbeit, und plötzlich verkündete sie, sie »fliege auf den Mond« - das war ihr Ausdruck dafür, förmlich in Alkohol zu baden. Sie trank dann mehrere Tage und Nächte hintereinander. Sie bevorzugte sehr süße, aromatische Getränke echten Rum, Apricot Brandy, Grand Marnier und Ähnliches. Merrick war ganz auf sich selbst konzentriert, wenn sie betrunken war, sang und schrieb und tanzte viel während dieser Zeit und wollte allein gelassen werden. Wenn ihr niemand in die Quere kam, war alles in Ordnung. Doch ein Streit konnte bei ihr Hysterie, Übelkeit, Desorientierung hervorrufen und das verzweifelte Bemühen, sofort nüchtern zu werden - und am Ende standen Schuldgefühle. Aber das kam nur selten vor. Normalerweise trank sie völlig ungestört eine Woche lang. Dann wachte sie eines Morgens auf, bestellte Frühstück mit starkem Kaffee und war innerhalb weniger Stunden wieder
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