Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
vorgaukelte - als eine der hässlichsten und widerwärtigsten davon die verstorbene Großmutter, die Große Nananne. »Wenn du die beiden Gestalten gesehen hättest, wie sie in der Auffahrt miteinander huschelten, wenn du sie gesehen hättest, so ineinander versunken und verschwörerisch, mich ganz beiläufig und furchtlos betrachtend, es hätte dir Schauer über den Rücken gejagt.«
»Zweifellos«, sagte er. »Und du bist sicher, dass du sie gesehen hast, als wenn sie wirklich da gewesen wären? Es war nicht nur eine Einbildung?«
»Nein, mein Lieber, ich habe sie gesehen. Sie wirkten real. Natürlich sahen sie nicht wie gewöhnliche Menschen aus, verstehst du. Aber sie waren da.«
Ich erzählte dann von meiner Rückkehr in das Hotel, von dem Altar, von Papa Legba und schließlich davon, wie ich nach Hause gekommen war, und beschrieb abermals die Cembalomusik und die in ihrem Käfig singenden Vögel.
Louis wurde bei diesen Worten ganz traurig, aber auch jetzt unterbrach er mich nicht.
»Ich sagte es ja schon, ich erkannte die Melodie. Es war Mozarts erste Sonate. Das Spiel war unrealistisch und voller -« »Beschreib es mir genauer.«
»Aber du musst es schon gehört haben! Es war gespenstisch. Ich meine, du musst diese Musik vor langer Zeit schon einmal gehört haben, als sie zum ersten Mal hier gespielt wurde, denn Spukerscheinungen wiederholen nur, was wirklich einmal geschehen ist.«
»Sie war so von Zorn erfüllt«, sagte Louis leise, als ob das Wort »Zorn« an sich ihn schon die Stimme dämpfen ließe. »Ja, so klang es, zornig. Es war Claudia, die da gespielt hat, nicht wahr?«
Er antwortete nicht. Diese Erinnerungen und Überlegungen schienen ihn niederzudrücken. Endlich sprach er. »Aber du weißt nicht, ob Claudia dich diese Töne hören ließ. Es könnte auch Merrick mit ihrem Zauber gewesen sein.«
»Damit hast du natürlich Recht, aber wir wissen nicht, ob Merrick auch für die anderen Dinge verantwortlich war. Der Altar, die Kerze, selbst mein Blut auf dem Taschentuch - das alles beweist nicht, dass Merrick diese Geister auf mich gehetzt hat. Wir sollten uns erst einmal Gedanken über die Große Nananne machen.«
»Meinst du, deren Geist hätte sich einfach auf eigene Faust einmischen können?«
Ich nickte. »Vielleicht will sie Merrick beschützen? Vielleicht will sie nicht, dass ihre Enkelin die Seele eines Vampirs heraufbeschwört? Wie sollen wir das wissen?« Louis schien der völligen Verzweiflung nahe zu sein. Er bewahrte seine ruhige, gesammelte Haltung, doch seine Miene zeigte große Betroffenheit. Dann riss er sich zusammen und bedeutete mir mit einem Blick, weiterzusprechen.
»Louis, hör mich an. Ich habe nur eine vage Idee von dem, was ich sagen will, aber es ist sehr wichtig.«
»Ja, was denn?« Er schien wie neu belebt und demütig zugleich, wie er da aufrecht in seinem Sessel saß und mich drängte fortzufahren.
»Wir beide, du und ich, sind Geschöpfe dieser Welt. Wir sind zwar Vampire, aber wir bestehen aus Materie. Wir sind sogar, indem wir allein vom Blut des Ho mo sapiens leben, mit dieser Spezies besonders intensiv verbunden. Welcher dämonische Geist auch in unseren Körpern wohnt, unsere Zellen regiert, uns am Leben erhält - welcher Dämon das alles auch tut, er ist ohne Verstand und könnte ebenso gut namenlos sein, soweit wir wissen. Darin stimmst du doch mit mir überein?«
»Ja«, sagte er, sichtlich darauf erpicht, dass ich fortfuhr. »Was Merrick macht, ist Zauberei, Magie. Magie gehört in ein anderes, übernatürliches Reich.« Louis sagte nichts darauf.
»Und um Zauberei, um Magie haben wir sie gebeten. Voodoo ist Magie, also übernatürlich, und auch Candomble. Und eigentlich gilt das auch für das heilige Messopfer.« Er war verblüfft, aber fasziniert.
»Gott ist übernatürlich, also ist er Magie«, fuhr ich fort, »genau wie die Heiligen, wie die Engel. Und wenn Geister wahrhaftig das sichtbar gewordene Erscheinungsbild einer Seele sind, die einst auf der Erde gelebt hat, sind auch sie magisch, übernatürlich.« Louis sog die Worte ehrfürchtig, aber stumm in sich auf. »Versteh doch«, sagte ich, »ich behaupte nicht, dass diese vielen magischen Elemente alle gleichwertig sind. Was ich sagen will, ist, dass sie etwas gemeinsam haben: Sie sind losgelöst von der Materie, von der Erde und von Körperlichkeit. Natürlich beeinflussen sie die Materie, den Körper. Aber sie haben auch Teil an jenem Reich reiner Spiritualität, wo möglicherweise
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