Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
drehte so war es noch, als die Spanier an ihren Stranden landeten.«
»Vielleicht ist unsere Fragestellung ja nicht richtig«, sagte ich schließlich. »Vielleicht sind es ja gar nicht die Götter, denen an Blut etwas liegt. Vielleicht ist das Blut ja für uns wichtig. Vielleicht haben wir es ja instrumentalisiert als Trägersubstanz, die uns mit dem Göttlichen verbindet. Vielleicht ist es etwas, das die irdische Welt mit dem Jenseits verbinden kann.«
»Hmm, das ist nicht bloß ein Anachronismus«, sagte er. »Es ist ein echtes Mysterium. Warum hatten die Ureinwohner Südamerikas in ihrer Sprache für Blumen und für Blut nur ein Wort?« Unruhig erhob er sich abermals von seinem Stuhl, trat wieder zum Fenster und schaute durch die Spitzenstores hinaus. »Ich habe meine Träume«, flüsterte er. »Ich träume, dass sie kommen wird und dass sie mir sagen wird, dass sie Frieden hat, und sie wird mir den Mut geben, zu tun, was ich tun muss.« Die Worte lösten Trauer und Unruhe bei mir aus. »Die Gebote des Ewigen bewahren nicht vor meinem Selbstmord«, er wandelte ein Shakespeare-Zitat ab, »denn um den zu vollbringen, muss ich nur eins tun - mich bei Tagesanbruch nicht vor der Sonne verbergen. Ich träume, dass mich Claudia an das Höllenfeuer mahnt und an die Notwendigkeit zu bereuen. Aber andererseits ist das Ganze ja auch ein kleines Mirakelspiel, oder? Wenn sie kommt, tastet sie vielleicht hilflos im Dunkeln. Vielleicht irrt sie verloren unter den rastlosen Seelen der Toten umher, die Lestat auf seiner Reise außerhalb unserer irdischen Welt sah.«
»Alles ist möglich«, antwortete ich.
Eine lange Pause trat ein, und so ging ich zu ihm und legte ihm meine Hand auf die Schulter. Ich wollte ihm auf meine Weise zeigen, dass ich seinen Schmerz achtete. Er erwiderte diese kleine Vertraulichkeit nicht. Ich kehrte zum Sofa zurück und wartete ab. Ich würde ihn nicht mit derartigen Gedanken allein lassen. Schließlich wandte er sich um.
»Warte hier«, sagte er leise, dann ging er hinaus und schritt den Korridor hinab. Ich hörte, wie er eine Tür öffnete. Kurz darauf kam er zurück und hielt etwas wie ein alte Fotografie in der Hand. Ich war ungeheuer erregt. War es das, was ich dachte?
Ich erkannte die kleine schwarze Guttaperchahülle, in die sie eingepasst war, ganz ähnlich denen, die Merricks Daguerreotypien umschlossen hatten. Rein äußerlich war die feine Arbeit gut erhalten. Louis öffnete die Hülle und betrachtete das Bild, und dann sagte er ehrfürchtig: »Du sprachst von den Familienfotos unserer geliebten Hexe. Du fragtest dich, ob die Seelen der Verstorbenen sie nicht als eine Art Medium benutzten, um über Merrick zu wachen.«
»Ja, wie gesagt, ich hätte schwören können, dass die kleinen Porträts Aaron und mich ansahen.«
»Und du erwähntest, dass du dir nicht vorstellen kannst, was es für uns damals bedeutete, als wir solche Daguerreotypien, oder wie man sie nannte, zum ersten Mal sahe n.« Ein gewisses Staunen ergriff mich, als ich ihm lauschte. Er hatte jene Zeit miterlebt. Er hatte damals gelebt, war ein Zeitzeuge. Er hatte den Schritt vom gemalten zum fotografierten Bild miterlebt. Er hatte während jener Jahrzehnte gelebt und lebte noch heute, in unserer Zeit.
»Überleg doch nur«, sagte er, »Spiegel, an die ist jeder gewöhnt. Stell dir einfach vor, dass ein Spiegelbild für immer in der Bewegung erstarrt ist. So kam es uns vor. Nur dass die Farben fehlten, völlig, und das war der eigentliche Schrecken, wenn man denn von Schrecken reden will. Aber weißt du, niemand hielt es damals für so bemerkenswert, nicht, als das Neue noch in seinen Anfängen steckte, und später war es dann schon etwas Gewöhnliches. Wir haben dieses Wunder nicht sehr geschätzt. Es wurde zu schnell zu populär. Und in der Anfangszeit, als die ersten Ateliers entstanden, war die Fotografie natürlich auch nichts für uns.«
»Nichts für uns?«
»David, man brauchte Tageslicht dafür, verstehst du nicht? Fotografieren war anfangs nur etwas für die Sterblichen.«
»Ja, natürlich, daran habe ich überhaupt nicht gedacht.«
»Sie hasste Fotografien«, sagte er. Wieder schaute er das Bild an. »Und eines Nachts knackte sie, ohne mein Wissen, das Schloss zu so einem Atelier - es gab schon sehr viele - und stahl alle Bilder, die sie finden konnte. Sie zerbrach sie, zerschmetterte sie in einem Wutanfall. Sie sagte, es sei abscheulich, dass wir uns nicht fotografieren lassen könnten. ›Ja, wir sehen uns
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