Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
habe ihnen gesagt, wir hätten genug Geld. Sehen Sie, wir haben Tausende, und der Bestatter ist schon unterwegs. Wir werden heute Nacht Totenwache halten, und morgen ist das Begräbnis. Ich habe Hunger. Ich brauche etwas zu essen.« Der ältliche Beerdigungsunternehmer war ebenfalls ein Farbiger, sehr groß und vollkommen kahl. Er brachte einen rechteckigen Behälter mit, in den der Leichnam gelegt werden sollte. Das Haus wurde nun dem Vater des Bestatters überlassen, einem sehr alten farbigen Mann von fast der gleichen Tönung wie Merrick; allerdings hatte er krauses weißes Haar. Beide Männer wirkten sehr distinguiert und trugen trotz der entsetzlichen Hitze ganz formelle Kleidung. Sie meinten ebenfalls, dass eine katholische Messe abgehalten werden sollte, aber Merrick erklärte auch ihnen, dass das für die Große Nananne nicht nötig sei. Es war erstaunlich, wie schnell das die Angelegenheit entschied. Nun ging Merrick zu dem Sekretär in Nanannes Zimmer und entnahm ihm ein weiß umhülltes Bündel, dann bedeutete sie uns mit einer Geste, dass wir nun gehen könnten. Wir machten uns auf zu einem Restaurant, wo Merrick, ohne ein Wort und immer mit dem Päckchen auf ihrem Schoß, ein riesiges Sandwich mit frittierten Shrimps und zwei Cola Light verdrückte. Sie war des Weinens offenbar müde und trug die erschöpfte, trauervolle Miene derer zur Schau, die zutiefst und unabänderlich verletzt wurden.
Das kleine Restaurant kam mir exotisch vor; der Fußboden war verdreckt, und die Tische waren unsauber, doch die Gäste waren ebenso ausgesprochen gut gelaunt wie die Kellner und die Serviererinnen.
New Orleans hypnotisierte mich, Merrick hypnotisierte mich, obwohl sie kein Wort sprach; aber ich ahnte nicht, dass noch Merkwürdigeres geschehen würde.
In einem traumgleichen Zustand fuhren wir zurück nach Oak Haven, um zu baden und uns für die Totenwache umzukleiden. Eine junge Frau, ein braves Mitglied der Talamasca, deren Namen ich hier aus guten Gründen nicht nennen werde, war Merrick behilflich und sorgte dafür, dass sie hübsch ausstaffiert wurde, mit einem marineblauen Kleid und einem breitrandigen Strohhut. Aaron rieb eigenhändig noch schnell ihre Lackschuhe blank. Merrick hatte einen Rosenkranz und ein in Perlstickerei eingeschlagenes Gebetbuch dabei.
Aber ehe wir mit ihr nach New Orleans zurückkehrten, wollte sie uns noch den Inhalt des Päckchens zeigen, das sie aus dem Zimmer der alten Frau mitgenommen hatte. Wir saßen in der Bibliothek, in der wir Merrick erst vor kurzem zum ersten Mal getroffen hatten. Alle im Mutterhaus waren beim Abendbrot, so dass wir den Raum ganz für uns hatten, ohne erst darum bitten zu müssen. Als sie die Hülle entfernte, fiel mein erstaunter Blick auf ein uraltes Buch oder eine antike Handschrift mit bunten Illustrationen auf einem Schuber aus Holz, der sich schon in seine Bestandteile auflöste, so dass Merrick es mit größter Sorgfalt handhabte.
»Dies ist mein Buch, es ist von der Großen Nananne«, sagte sie, wobei sie den dicken Band mit sichtlicher Ehrfurcht betrachtete. Sie erlaubte Aaron, das Buch in seiner Verpackung unter das Lampenlicht auf dem Tisch zu heben. Nun ist Pergament das beständigste Material, das je zur Buchherstellung erfunden wurde, und dies hier war eindeutig so alt, dass es, auf einem anderen Material geschrieben, die Zeitläufte nicht überstanden hätte. Tatsächlich zerfiel die hölzerne Hülle ja schon, und Merrick selbst übernahm es, sie fortzuschieben, so dass man die Titelseite des Buches lesen konnte. Sie war in Latein abgefasst, und ich übersetzte sie automatisch, wie es jedes Mitglied der Talamasca auch gekonnt hätte.
HIERIN STEHEN GESCHRIEBEN
ALLE GEHEIMNISSE DER ZAUBERKUNST, WIE SIE HAM, DEM SOHN NOAHS, VON DEN WÄCHTERN GELEHRT UND WEITERGEGEBEN WURDEN
AN SEINEN EINZIGEN SOHN, MESTRAM
Vorsichtig blätterte Merrick das Titelblatt um, das von drei Lederbändern mit den anderen Seiten zusammengehalten wurden, und schlug die erste von vielen dicht an dicht mit Zaubersprüchen und Beschwörungen bedeckten Seiten auf, die alle in verblichenem, aber noch gut lesbarem Latein abgefasst waren.
Es war das älteste Buch über Zauberei, das ich je gesehen hatte, und natürlich behauptete es - wie auf der Titelseite verkündet -, dass es auf die älteste Form der schwarzen Magie seit der Sintflut zurückginge.
Ich war ja nun mehr als vertraut mit den Überlieferungen von Noah und seinem Sohn Ham und auch mit den noch
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