Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
haben, denn ihre Lippen verzogen sich kurz zu einem Lächeln. Dann fuhr sie fort. »Als ich sechs Jahre war, begann sie sich selbst so zu nennen. Sie sagte dann: ›Merrick, nun komm her zu Cold Sandra.‹ Und dann hüpfte ich auf ihren Schoß.«
Als sie fortfuhr, klang ihre Stimme leicht brüchig. »Sie war überhaupt nicht wie die Große Nananne. Und sie rauchte dauernd, und sie trank, und immer war sie ruhelos, und wenn sie trank, war sie gemein. Wenn sie nach langer Abwesenheit nach Hause kam, pflegte die Große Nananne zu sagen: ›Was sinnst du nun wieder in deinem kalten Herzen, Cold Sandra? Welche Lügen wirst du uns auftischen?‹ Die Große Nananne sagte immer, die Zeit der schwarzen Magie wäre vorbei. Man könnte alles, was man wollte, mit weißer Magie erreichen. Dann kam Matthew, und Cold Sandra war so glücklich wie noch nie.« »Matthew«, sagte ich schmeichelnd, »der Mann, der dir das Buch mit den Pergamentseiten gegeben hat.«
»Das hat nicht er mir gegeben, Mr. Talbot, er lehrte mich nur, die Sprache zu lesen«, antwortete sie. »Wir hatten das Buch schon vorher. Es kam von Großonkel Vervain, der ein großer Voodoo-Mann war. Von einem Ende der Stadt bis zum andern nannte man ihn nur Dr. Vervain. Alle wollten Beschwörungen von ihm. Der alte Mann gab mir eine Menge Sachen, ehe er von uns ging. Er war der ältere Bruder von der Großen Nananne. Er war die erste Person, die ich im einen Moment lebendig und im nächsten tot sah. Er saß am Esszimmertisch mit der Zeitung in der Hand.« Mir lagen noch mehr Fragen auf der Zunge. In dieser ganzen langen Geschichte, die sich da vor mir auffächerte, war ein Name nicht erwähnt worden, der, den die Große Nananne gerufen hatte: Honey in the Sunshine.
Aber wir waren an dem alten Haus angelangt. Die Nachmittags sonne schien recht kräftig, doch der Regen hatte sich verzogen.
8
Ich wunderte mich, dort noch so viele Leute herumstehen zu sehen. Sie waren wirklich überall; sie wirkten zwar etwas niedergedrückt, aber sehr interessiert. Ich bemerkte gleich, dass nicht ein, sondern zwei kleine, geschlossene Transporter vom Mutterhaus gekommen waren, und dass ein Grüppchen unserer Talamasca-Jünger bereitstand, um alles im Haus zusammenzupacken.
Ich begrüßte die jungen Ordensmitglieder, dankte ihnen schon im Voraus für ihre Sorgfalt und Umsicht beim Packen und wies sie an, in Ruhe abzuwarten, bis sie von uns das Signal zum Beginn der Arbeit bekämen.
Während wir die Stufen erklommen und dur ch das Haus gingen, sah ich, soweit es die vorhandenen Fenster erlaubten, dass auch in der Gasse Leute herumlungerten, und als wir in den Garten hinaustraten, bemerkte ich, dass sich ein kleiner Menschenauflauf links und rechts hinter dem Dickicht der Eichen mit ihren dicht belaubten, niederhängenden Ästen angesammelt hatte. Eine Einfriedung war nicht zu entdecken. Aber ich bin überzeugt, dass es zu jener Zeit auch keine gab.
Unter einem Baldachin aus üppig grünem Blattwerk herrschte trübes Dämmerlicht, und wir waren umgeben vom Klang sacht tropfenden Wassers. Wo das Sonnenlicht den tiefen Schatten durchdringen konnte, wuchsen wilde rote Hyazinthen. Ich sah schlanke Eibenbäume, die den Toten und den Zauberern gleichermaßen heilig sind. Unzählige Lilien kämpften gegen den Würgegriff des wuchernden Rasens. Ein traditioneller japanischer Garten hätte nicht ruhevoller und verträumter sein können. Als sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, stellte ich fest, dass wir in einem mit Steinplatten belegten, patioartigen Hof standen, über den sich mehrere knorrige, blütenübersäte Bäume verteilten; die Platten waren an vielen Stellen geborsten und dicht mit schlüpfrigen, nass glänzenden Moospolstern überwachsen. Vor uns stand ein großer, offener Schuppen mit einem Mittelpfeiler, der ein rostiges Wellblechdach stützte.
Der Pfeiler, der bis zur Mitte leuchtend rot und von da an bis zur Spitze grün gestrichen war, erhob sich aus einem großen, vom Gebrauch entsprechend befleckten Altarstein. Hinter dem Pfeiler, im Düster des Schuppens, stand der dazugehörige Schrein, auf dem noch mehr und schöner geschmückte Heiligenfiguren vertreten waren als auf dem im Schlafraum der Großen Nananne. Reihen um Reihen brennender Kerzen standen davor. Wie ich von meinen Studien wusste, war das eine sehr übliche Anordnung im Voodoo-Kult - der zentrale Pfeiler und der Stein -, die man auch über ganz Haiti verstreut finden konnte. Und dieser grün
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