Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
die Hautfarbe darüber bestimmte, zu welcher Gruppe man sich gesellte.
Aaron und ich warteten wie auf die Folter gespannt darauf, ob man uns wegen Merrick und ihrer Zukunft ausfragen würde, aber niemand sagte auch nur ein Wort. Tatsächlich umarmten die Leute Merrick nur, küssten sie und flüsterten ihr etwas zu, und dann gingen sie ihrer Wege. Wieder stand da eine Schale, und man legte Geld hinein, wofür, war uns nicht klar. Vielleicht für Merrick, denn die Besucher wussten ja bestimmt, dass sie weder Vater noch Mutter hatte.
Erst als wir uns aufmachten, um auf den Feldbetten in einem der hinteren Räume, der ansonsten unmöbliert war, zu schlafen (der Sarg mit der Toten würde die ganze Nacht über offen bleiben), brachte Merrick den Priester zu uns. Sie redete in sehr gutem Französisch schnell auf ihn ein und sagte, dass wir ihre Onkel seien und sie nun bei uns leben würde.
»Das ist also die Geschichte«, dachte ich. Wir sind also ihre Onkel. Merrick würde also fortgehen, um eine Schule zu besuchen. »Genau das hatte ich ihr nahe legen wollen«, sagte Aaron. »Ich frage mich, wie sie das wissen konnte. Ich dachte,
sie würde sich mit mir deswegen herumstreiten.«
Ich wusste selbst nicht, was ich dachte. Dieses sachliche, ernsthafte, schöne Kind verstörte mich und zog mich an. Dieses ganze Schauspiel ließ mich an meinem Verstand zweifeln. In dieser Nacht schliefen wir nur unruhig. Die engen Pritschen waren unbequem, in dem nackten Raum brütete die Hitze, und in der Diele war ein ewiges Kommen und Gehen und ständiges Geflüster.
Viele Male ging ich in den Salon hinüber, wo ich Merrick in ihrem Sessel ruhig vor sich hin dösend fand. Der alte Priester begab sich irgendwann gegen Morgen zum Schlafen. Durch die Hintertür konnte ich in den in Dunkel gehüllten Hof sehen, in dem ferne Kerzen oder Lampen heftig flackerten. Es war irritierend. Als ich endlich einschlief, standen nur noch wenige Sterne am Himmel.
Endlich kam der Morgen, und die Trauerfeierlichkeiten begannen.
Der Priester, in seine Messgewänder gekleidet, erschien wieder, zusammen mit einem Messdiener, und stimmte die Gebete an, die alle Anwesenden zu kennen schienen. Der Gottesdienst wurde in Englisch abgehalten, war aber nicht weniger feierlich als der alte lateinische Ritus, den man aufgegeben hatte. Der Sarg wurde geschlossen.
Merrick begann, am ganzen Körper zu zittern, und weinte laut auf. Es war schrecklich, das mit anzusehen. Sie hatte den Strohhut fortgeschoben und war nun barhäuptig. Sie schluchzte lauter und lauter. Mehrere elegante farbige Frauen versammelten sich um sie und führten sie die Eingangstreppe hinab. Sie rieben ihr kräftig die Arme und tupften ihr die Stirn ab. Mittlerweile schluchzte sie so heftig, dass es wie ein Schluckauf klang. Die Frauen murmelten ihr beruhigend ins Ohr und küssten sie. Einmal schrie Merrick laut auf. Dieses so gelassene kleine Mädchen nun nahezu hysterisch zu sehen zerriss mir das Herz. Man musste sie fast in die Limousine tragen. Nach ihr folgte der Sarg, der von düster blickenden Trägern zum Leichenwagen gebracht wurde, und dann ging es zum Friedhof, Aaron und ich in einem Wagen der Talamasca, leider getrennt von Merrick; doch hatten wir uns damit abgefunden, dass es so am besten war. Das düstere Schauspiel wurde nicht im Mindesten durch den Regen geschmälert, der unaufhörlich auf uns niederging, während der Leichnam der Großen Nananne auf wild überwucherten Pfaden zwischen hohen, spitzgiebeligen Marmorgruften hindurch über den St. Louis Nr. 1 Friedhof getragen wurde. Er sollte dort in der röhrenartigen Kammer einer dreigeschossigen Gruft beigesetzt werden.
Die Moskitos waren kaum zu ertragen. Das Gestrüpp schien von unsichtbaren Insekten zu wimmeln, und als Merrick sah, dass der Sarg an seinen Platz gesetzt wurde, begann sie abermals zu schreien. Wieder rubbelten ihr die eleganten Damen die Arme, strichen ihr über den Kopf und küssten sie auf die Wangen. Merrick schrie etwas sehr laut auf Französisch. »Wo bist du, Cold Sandra, wo bist du, Honey in the Sunshine?
Warum seid ihr nicht heimgekommen?«
Ungezählte Rosenkranzperlen begannen zu klappern, und lautes Beten klang auf, als Merrick sich gegen das Grab lehnte, die rechte Hand an dem noch sichtbaren Sarg. Endlich, als sie völlig erschöpft war, wurde sie ruhiger, wandte sich um und kam, von den Frauen gestützt, entschlossen zu Aaron und mir.
Während die Frauen sie noch tätschelten, warf sie ihre Arme
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