Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
Ungeheuerliches jenseits von Zeit und Raum herauf, um es einfach mit einer zynischen Erklärung beiseitezuwischen. Es existierten dort draußen namenlose Schrecken, und egal, wie wenig man gegen sie ausrichtete, sollte man doch zu jeder Zeit zu allem bereit sein.
Über eine Woche lang grübelte Dr. Willett über das Dilemma nach, das auf seinen Schultern lastete. Er gelangte immer mehr zu der Ansicht, dass er Charles in dessen Bungalow in Pawtuxet einen Besuch abstatten sollte. Keiner von Charles’ Jugendfreunden hatte es bisher gewagt, diese tabubelegte Klause zu betreten, und selbst sein Vater kannte das Innere nur anhand der Beschreibungen, die Charles zu geben geneigt gewesen war. Willett hingegen hatte das Gefühl, dass mit seinem Patienten ein Gespräch unter vier Augen notwendig sei. Mr. Ward hatte inzwischen kurze, nichtssagende, mit der Schreibmaschine getippte Nachrichten von seinem Sohn erhalten, und berichtet, dass auch seine Frau in ihrem Kurort in Atlantic City nicht mehr erfahren habe. So fasste der Arzt schließlich den Entschluss zu handeln und machte sich tapfer auf den Weg zu dem Bungalow auf dem Steilufer über dem Fluss. Die unguten Gefühle aufgrund der alten Legenden über Joseph Curwen und der neueren Enthüllungen und Warnungen von Charles Ward unterdrückte er.
Willett kannte den Weg bereits, da er diesen Ort schon zuvor einmal aus reiner Neugierde aufgesucht hatte – dabei hatte er das Haus natürlich nicht betreten oder auch nur seine Anwesenheit zu erkennen gegeben. Eines frühen Nachmittags Ende Februar fuhr er in seinem kleinen Wagen über die Broad Street und dachte merkwürdigerweise an die finster entschlossenen Männer, die 157 Jahre zuvor genau denselben Weg eingeschlagen hatten, um eine Aufgabe zu erfüllen, die vielleicht niemand je ganz begreifen würde.
Die Fahrt durch den maroden Stadtrand war kurz, und vor ihm erstreckten sich alsbald das schmucke Edgewood und das verschlafene Pawtuxet. Willett bog nach rechts in die Lockwood Street ein und fuhr diese Landstraße so weit es ging entlang, stieg dann aus und ging in nördliche Richtung bis zu der Stelle, wo das Steilufer sich über der anmutigen Flussbiegung und den nebelbedeckten Tieflanden dahinter erhob. Hier gab es nur wenige Häuser, und der einsame Bungalow mit der Betongarage auf einem hochgelegenen Hügel links daneben war nicht zu übersehen. Willett schritt forsch über den ungepflegten Kiesweg, klopfte laut an die Tür und sprach den tückischen portugiesischen Mulatten, der die Tür nur einen Spaltbreit öffnete, ohne ein Beben in der Stimme an.
Er müsse, sagte er, Charles Ward unverzüglich sehen. Es gehe um eine Sache von höchster Dringlichkeit. Er werde keine Ausrede dulden, und eine Absage hätte zur Folge, dass er dem Vater von Charles Ward alles berichten würde. Der Mulatte zögerte noch und drückte gegen die Tür, als Willett versuchte, sie zu öffnen.
Doch der Doktor erhob jetzt die Stimme und wiederholte seine Forderungen. Dann war aus dem dunklen Hausinnern ein raues Flüstern zu hören, das dem Besucher durch und durch ging, auch wenn er nicht wusste, weshalb es ihm solche Furcht einjagte. »Lass ihn herein, Tony«, sagte die Stimme, »wir können uns auch hier unterhalten.« So verstörend das Flüstern auch war, das größere Grauen folgte erst noch. Die Bodenbretter knarrten und der Sprecher trat ins Licht – und diese seltsame und hallende Stimme gehörte niemand anderem als Charles Dexter Ward.
Die Genauigkeit, mit der Dr. Willett sich an das Gespräch an diesem Nachmittag erinnerte und mit der er es aufschrieb, ist der Bedeutung zuzuschreiben, die er dieser Begebenheit beimisst. Denn hier nun gibt er endlich zu, dass sich in Charles Dexter Wards Seelenleben ein umfassender Wandel zugetragen hatte. Er glaubt, dass der junge Mann von nun an von einem Hirn geleitet wurde, das dem Verstand völlig fremd war, dessen Entwicklung er 26 Jahre lang beobachtet hatte.
Die Kontroverse mit Dr. Lyman hat ihn zu größter Genauigkeit gezwungen, und er legt den Beginn von Charles Wards Wahnsinn definitiv in die Zeit, als die mit Schreibmaschine geschriebenen Nachrichten seine Eltern erreichten. Diese Nachrichten entsprechen nicht Wards üblichem Stil, nicht einmal dem letzten panischen Brief an Willett. Stattdessen wirken sie seltsam und altertümelnd, als habe die Tatsache, dass der Schreiber den Verstand verlor, eine Flut an Neigungen und Eindrücken ausgelöst, die er unbewusst durch die
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