Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
mehr, als er zuvor seiner Familie oder Dr. Willett anvertraut hatte, und seinen panischen Brief des Vormonats tat er als rein hysterische Nervensache ab. Er beharrte darauf, dass in diesem düsteren Bungalow weder eine geheime Bibliothek noch ein verborgenes Laboratorium existierten. Seine Argumente nahmen abstruse Züge an, als er versuchte zu erklären, wieso man im ganzen Haus keine solchen Gerüche wahrnahm, wie die, nach denen seine gesamte Kleidung rieche. Den Klatsch in der Nachbarschaft führte er auf die geistlose Erfindungsgabe wirrer Neugier zurück. Über den Verbleib von Dr. Allen dürfe er keine Angaben machen, versicherte seinen Besuchern jedoch, dass der bärtige Mann mit der Brille zurückkehren würde, wenn man ihn bräuchte.
Als er den apathischen Portugiesen aus Brava, der allen Versuchen widerstand, ihn zu befragen, auszahlte und den Bungalow abschloss, der nach wie vor von nächtlichen Geheimnissen erfüllt schien, ließ Ward keinerlei Nervosität erkennen, nur manchmal hielt er kaum merklich inne, als horche er auf ein sehr leises Geräusch. Dem Anschein nach nahm er das alles mit ruhiger, philosophischer Gelassenheit hin, als sei seine Einweisung nichts als ein beiläufiger Vorfall, der kaum Ärger verursachen würde, wenn man sich jetzt ein für alle Mal um die Sache kümmere. Offensichtlich vertraute er aufgrund seines ungetrübt scharfen Verstandes darauf, all die Peinlichkeiten zu überwinden, die ihm sein verzerrtes Gedächtnis, seine verlorene Stimme und Handschrift sowie sein geheimniskrämerisches und exzentrisches Verhalten eingehandelt hatten. Seine Mutter, so kam man überein, sollte nichts von der Änderung erfahren, deshalb würde sein Vater ihr im Namen von Charles Briefe mit der Schreibmaschine schreiben.
Charles Ward wurde in die idyllisch und malerisch gelegene Privatklinik gebracht, die Dr. Waite auf Conanicut Island in der Bucht leitete, und von allen mit dem Fall betrauten Ärzten eingehend untersucht und befragt. Dabei bemerkte man schließlich die körperlichen Merkwürdigkeiten: den erlahmten Stoffwechsel, die veränderte Beschaffenheit der Haut und die unangemessenen neuralgischen Reaktionen.
Von allen untersuchenden Ärzten war Dr. Willett der fassungsloseste, hatte er sich doch sein Lebtag lang um Charles gekümmert und konnte deshalb mit schrecklicher Klarheit das Ausmaß der physischen Veränderungen ermessen. Selbst das vertraute olivfarbene Mal auf der Hüfte war verschwunden, während sich auf der Brust ein großes schwarzes Muttermal oder eine Vernarbung zeigte, die zuvor nicht da gewesen war, sodass Willett sich fragte, ob der junge Mann mit dem ›Hexenmal‹ gebrandmarkt wurde, die man den Gerüchten nach bei gewissen unheimlichen nächtlichen Zusammenkünften an wilden und einsamen Orten erhielt. Der Doktor musste unablässig an die Abschrift eines Dokumentes über einen Hexenprozess in Salem denken, die Charles ihm einmal in den Tagen, bevor er mit der Heimlichtuerei begann, gezeigt hatte und das besagte: »Mr. G. B. hat in jener Nacht der Bridget S., dem Jonathan A., dem Simon O., der Deliverance W., dem Joseph C., der Susan P., der Mehitable C. und der Deborah B. das Signum des Teuffels aufgedrückt.«
Auch Charles Gesicht bereitete ihm Sorgen, bis er auf einmal entdeckte, weshalb es ihn so entsetzte. Über dem rechten Auge des jungen Mannes befand sich etwas, das der Arzt nie zuvor bemerkt hatte – eine kleine Narbe oder Falte, genau wie jene auf dem zu Staub zerfallenen Porträt des alten Joseph Curwen. Sie deutete vielleicht auf irgendeine scheußliche rituelle Impfung hin, der beide sich auf einer bestimmten Stufe ihrer okkulten Laufbahn ausgesetzt hatten.
Während Ward selbst alle Ärzte der Klinik in Ratlosigkeit versetzte, wurde die gesamte Post auf seinen oder Dr. Allens Namen überwacht und auf Mr. Wards Geheiß hin in das Haus der Familie geliefert. Willett hatte prophezeit, dass sich dadurch nur sehr wenig entdecken ließe, da alle wirklich wichtigen Nachrichten gewiss durch einen Boten übermittelt würden, doch Ende März kam aus Prag ein Brief an Dr. Allen an, der sowohl den Doktor als auch den Vater ins Grübeln brachte. Der Brief war in schwer leserlicher und altertümlicher Handschrift geschrieben und obwohl er eindeutig nicht von einem Ausländer verfasst worden war, wies er eine ebenso starke Abweichung vom modernen Sprachgebrauch auf wie die Sprache des jungen Ward. Er lautete wie folgt:
Kleinstraße 11,
Prager Altstadt,
11.
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