Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
bleiernen Schale auf dem Boden betrachtete.
Mit einiger Anstrengung gelang es Willett aber doch, sich zusammenzureißen, und er machte sich an die Untersuchung der in die Mauern gemeißelten Zeichen. Die fleckigen und verkrusteten Buchstaben stammten mit ziemlicher Sicherheit noch aus Joseph Curwens Zeit. Der Text selbst war für jemanden, der einen Großteil von Curwens Manuskripten kannte oder sich eingehend mit der Geschichte der Magie befasst hatte, nur vage vertraut. An einer Stelle erkannte der Arzt einen Spruch, der dem entsprach, was Mrs. Ward ihren Sohn an jenem schändlichen Karfreitag vor einem Jahr hatte singen hören. Es war ein Text, über den ein Experte Willett informiert hatte, dass es sich um eine entsetzliche Beschwörungsformel handelte, die sich an geheime Götter außerhalb der üblichen Sphären wandte. Hier war sie zwar etwas anders geschrieben, als Mrs. Ward sie aus ihrem Gedächtnis wiedergegeben hatte, und auch nicht so wie im Werk von ›Eliphas Lévi‹, dessen verbotene Seiten Willett von dem Experten gezeigt worden waren, doch die Identität war unverkennbar. Worte wie Sabaoth, Metraton, Almonsin und Zariatnatmik ließen den Arzt erbeben, hatte er doch hier unten schon so viele kosmische Scheußlichkeiten gesehen und erlitten.
Der Text befand sich an der vom Eingang her gesehenen linken Wand. Die Mauer an der rechten Seite war allerdings kaum weniger dicht mit Inschriften bedeckt. Willett schreckte zusammen, als er das Formelpaar wiedererkannte, das in den neueren Notizen in der Bibliothek so häufig aufgetaucht war. Es handelte sich um das gleiche wie in Wards Kritzeleien und beide wurden von den uralten Symbolen des ›Drachenhauptes‹ und des ›Drachenschwanzes‹ gekrönt. Allerdings unterschied sich die Schreibweise erheblich von der modernen Variante, als habe der alte Curwen mit einer anderen Methode die Laute aufgezeichnet. Vielleicht hatten auch spätere Forschungen zu einer mächtigeren, perfektionierten Version der fraglichen Beschwörung geführt. Der Arzt versuchte, die gemeißelte Variante mit der in Einklang zu bringen, die ihm nach wie vor durch den Kopf spukte, und das fiel ihm recht schwer. Wo die Handschrift, die er sich eingeprägt hatte, mit » Y’ai’ng’ngah, Yog-Sothoth« begann, fing diese Inschrift mit » Aye, cngengah, Yogge-Sothotha« an, was für ihn eine ernstliche Störung in der Silbenbildung des zweiten Wortes darstellte.
Sosehr sich der spätere Text auch in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, so verstörend fand er diese Diskrepanz. Er ertappte sich dabei, wie er die erste der Formeln laut vor sich her sang, um ihren Klang mit den eingemeißelten Schriftzeichen in Übereinstimmung zu bringen. Seine Stimme hallte unheimlich und bedrohlich durch diesen Schlund uralter Blasphemien und sie veränderte sich zu einem dröhnenden Singsang, ob nun durch den Fluch der Vergangenheit und des Unbekannten oder durch das teuflische Vorbild des dumpfen, gottlosen Gekeifes aus den Gruben, dessen unmenschliche Kadenzen in der Ferne durch den Gestank und die Finsternis hindurch rhythmisch auf- und abschwollen.
Y’AI’NG’NGAH,
YOG-SOTHOTH H’EE – L’GEB
F’AI’THRODOG
UAAAH!
Doch woher kam jetzt dieser kalte Wind, der gleich zu Anbeginn der Liturgie eingesetzt hatte? Die Lampen flackerten bedrohlich, und das Licht wurde so trübe, dass man die Schriftzeichen auf den Mauern kaum noch erkennen konnte. Nun lag auch Rauch und ein beißender Geruch in der Luft, der selbst den Gestank aus den fernen Gruben überlagerte. Ein Geruch wie der, den er zuvor schon gerochen hatte, doch jetzt wesentlich stärker und stechender.
Willett wandte sich von den Inschriften ab und betrachtete den Raum mit seiner bizarren Einrichtung – und er sah, dass aus der Schale auf dem Boden, in der das ominöse Pulver gelegen hatte, ein dichter, grünlich-schwarzer Dunst von verblüffender Höhe und Festigkeit strömte. Dieses Pulver – großer Gott! Es stammte aus dem Regal der ›Materia‹ –, was geschah damit und was hatte das ausgelöst? Die Formel, die er gesungen hatte – die erste der beiden – das Drachenhaupt, der aufsteigende Knoten –, gütiger Heiland, konnte es sein ...
Der Arzt taumelte, und in seinem Kopf rasten wild unzusammenhängende Bruchstücke von allem umher, was er während des fürchterlichen Falles von Joseph Curwen und Charles Dexter Ward gesehen, gehört und gelesen hatte. »Wie ich Euch schon dazumal riet: Rufet nichts herbey, das Ihr nicht
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