Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
versiegelt.«
Wieder antwortete Willett mit Schweigen.
Doch dies waren noch immer nicht die letzten Ereignisse in dieser Geschichte. Als Dr. Willett aufstand, um den Bungalow zu verlassen, griff er in seiner Tasche nach einem Taschentuch und bekam ein Stück Papier zu fassen, das zuvor nicht dort gewesen war. Es befand sich zwischen den Kerzen und Streichhölzern, die er in dem verschwundenen Gewölbe eingesteckt hatte. Es handelte sich um ein gewöhnliches Blatt Papier, offensichtlich von dem billigen Schreibblock abgerissen, der sich in dem mysteriösen Raum irgendwo dort unten befunden hatte, und beschriftet war es mit einem herkömmlichen Bleistift – zweifelsfrei mit dem, der neben dem Block gelegen hatte. Es war sehr grob zusammengefaltet, und außer dem schwachen, beißenden Geruch der rätselhaften Kammer haftete ihm nichts Außerweltliches an. Der Text selbst jedoch bot genügend Anlass zum Staunen, denn bei der Schrift handelte es sich nicht um die eines aufgeklärten Zeitalters, sondern um die mühseligen Striche mittelalterlicher Finsternis, dem Laien, der es nun mühsam zu lesen versuchte, kaum entzifferbar, doch voller Kombinationen von Symbolen, die auf unbestimmte Weise vertraut erschienen:
So also sah die rasch hingekritzelte Botschaft aus, und ihr Geheimnis gab den beiden erschütterten Männern eine neue Aufgabe, die nun schnurstracks hinaus zu Wards Wagen gingen und dem Chauffeur Anweisung gaben, sie zuerst in ein ruhiges Gasthaus und dann in die John Hay Library auf dem Hügel zu fahren.
In dieser Bibliothek war es ein Leichtes, gute Handbücher zum Thema Paläografie zu finden, und in diese vertieften die beiden Männer sich, bis die abendlichen Lichter am Kronleuchter aufflammten. Sie fanden schließlich, wonach sie suchten. Es waren keine erfundenen Buchstaben, sondern die üblichen Schriftzeichen eines sehr dunklen Zeitalters. Es handelte sich um die spitzen angelsächsischen Minuskeln des achten oder neunten Jahrhunderts nach Christus, und sie erinnerten den Betrachter an eine derbe Epoche, in der sich unter einer noch frischen Fassade des Christentums uralte Vorstellungen und uralte Riten im Verborgenen regten und der fahle Mond Britanniens bisweilen auf seltsame Vorgänge in den römischen Ruinen von Caerleon und Hexhaus und in den Türmen des verfallenden Hadrianswall hinabblickte. Die Worte waren in einem Latein verfasst, an das man sich in jenem barbarischen Zeitalter noch erinnern konnte – » Corwinus necandus est. Cadaver aq(ua) forti dissolvendum, nec aliq(ui)d retinendum. Tace ut potes .« –, was sich ungefähr so übersetzen lässt: »Curwen muss getötet werden. Die Leiche muss in aqua fortis aufgelöst werden, und nichts davon darf übrig bleiben. Haltet Stillschweigen nach bestem Vermögen.«
Willett und Mr. Ward waren sehr erstaunt. Sie waren auf das Unbekannte gestoßen, und sie merkten, dass es ihnen an den Emotionen fehlte, mit denen sie ihrer Ansicht nach eigentlich darauf reagieren sollten. Vor allem bei Willett war die Fähigkeit, noch weitere erstaunliche Eindrücke aufzunehmen, so gut wie erschöpft, und so saßen beide Männer stumm und hilflos da, bis die Schließung der Bibliothek sie zu gehen zwang. Sie fuhren apathisch ins Anwesen der Wards in der Prospect Street und unterhielten sich ohne Ergebnis bis tief in die Nacht. Der Doktor schlief gegen Morgen ein wenig, ging aber nicht nach Hause. Und er war auch am Samstagmittag noch anwesend, als die Detektive, die mit der Suche nach Dr. Allen betraut worden waren, sich telefonisch meldeten.
Mr. Ward, der in einen Morgenmantel gekleidet nervös im Zimmer auf und ab ging, nahm den Anruf selbst entgegen. Als er hörte, dass sie mit ihrem Bericht beinahe fertig waren, bat er die Männer, am nächsten Morgen ins Haus zu kommen. Er und Willett waren froh darüber, dass der Fall zumindest in dieser Hinsicht vorankam, denn egal woher die sonderbare Minuskelbotschaft auch stammen mochte, eines schien sicher: Der ›Curwen‹, der vernichtet werden sollte, konnte kein anderer als der Fremde mit Bart und Brille sein. Charles hatte sich vor diesem Mann gefürchtet und in seinem panischen Brief geschrieben, dass er getötet und in Säure aufgelöst werden müsse. Darüber hinaus hatte Allen von den merkwürdigen Hexenmeistern aus Europa Briefe unter dem Namen Curwen erhalten, und sich selbst eindeutig als ein Avatar des verstorbenen Nekromanten gesehen. Und nun war aus neuer und unbekannter Quelle eine Botschaft
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