Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
er, sei gegen ein Uhr morgens am ersten Mai des Jahres 1915 in der Nähe einer verschlossenen Höhle entstanden, dort, wo der bewaldete Westhang des Dark Mountain die Lee-Sümpfe überragt. Dieser Ort war schon immer für rätselhafte Stimmen berüchtigt, weshalb er den Fonografen, das Diktafon und den unbespielten Wachszylinder dorthin mitgebracht hatte. Aus Erfahrung wusste er, dass die Walpurgisnacht – die Nacht des scheußlichen Hexensabbats der alten Legenden Europas – vermutlich ertragreicher sein würde als jedes andere Datum, und tatsächlich wurde er nicht enttäuscht. Bemerkenswerterweise ließen sich seitdem keine Stimmen mehr an dieser Stelle vernehmen.
Anders als die meisten Stimmen, die er zufällig in den Wäldern belauscht hatte, besaßen die der Aufzeichnung einen gewissermaßen rituellen Charakter; auch eine eindeutig menschliche Stimme war darunter, die Akeley allerdings nicht einzuordnen vermochte. Es handelte sich nicht um Browns Stimme, sondern sie schien einem kultivierteren Mann zu gehören. Die zweite Stimme war jedoch das Entscheidende – dieses verfluchte Summen, das keine Ähnlichkeit mit einer menschlichen Stimme aufwies, auch wenn es menschliche Worte in grammatikalisch korrektem Englisch und in einem gelehrten Tonfall aussprach.
Der Fonograf und das angeschlossene Diktafon hatten nicht gänzlich zufriedenstellend gearbeitet, was angesichts der Entfernung und der gedämpften Lautstärke des Rituals kaum verwunderte. Die aufgezeichnete Rede war daher recht bruchstückhaft. Akeley hatte mir eine Abschrift zukommen lassen, die das Gesprochene, so wie er es zu verstehen meinte, wiedergab, und während ich das Gerät zum Abspielen vorbereitete, warf ich wieder einen Blick auf diese Blätter. Der Text war weniger erschreckend als vielmehr dunkel und rätselhaft, doch mein Wissen um seine Herkunft und die Umstände der Aufzeichnung verliehen ihm das ahnungsvolle Grauen, das nicht durch Worte zu vermitteln ist. Ich werde den Text hier in voller Länge aus dem Gedächtnis wiedergeben, wobei ich fest davon überzeugt bin, dass ich Wort für Wort auswendig kenne – nicht nur durch die Lektüre der Abschrift, sondern auch durch das ständige Abspielen der Aufnahme selbst. So etwas vergisst man nicht so einfach!
(Unidentifizierbare Geräusche)
(Eine kultivierte männliche Menschenstimme)
… ist der Herr des Waldes, auch für … und die Gaben der Menschen von Leng … aus den Quellen der Nacht in die Abgründe des Alls, und aus den Abgründen des Alls zu den Quellen der Nacht, ewig sei das Lob des Großen Cthulhu, des Tsathoggua und Dessen, der nie mit Namen genannt werden darf. Ewig sei ihr Lob und reicher Segen sei der Schwarzen Ziege der Wälder. Iä! Shub-Niggurath! Die Ziege mit den tausend Jungen!
(Summende Nachahmung menschlicher Sprache)
Iä! Shub-Niggurath! Die Schwarze Ziege der Wälder mit den tausend Jungen!
(Menschliche Stimme)
Und so trug es sich zu, dass der Herr der Wälder, der … sieben und neun, die Onyxstufen herab … (Tri)but an Ihn im Abgrund, Azathoth, Er, von dem du uns Wunder lehrt(est) … auf den Schwingen der Nacht von jenseits des Alls, jenseits von d… zu Jenem, dessen jüngstes Kind Yuggoth ist, der einsam grollt im schwarzen Äther am Rande …
(Summende Stimme)
… gehe hin zu den Menschen und finde die Wege, auf dass Er im Abgrund es wisse. Nyarlathotep, dem Mächtigen Boten, sei alles mitgeteilt. Und Er wird die Gestalt des Menschen anlegen, die wächserne Maske und das alles verbergende Gewand, und wird herabkommen aus der Welt der Sieben Sonnen voller Hohn …
(Menschliche Stimme)
… (Nyarl)athotep, Großer Bote, der du Yuggoth durch die Leere sonderbare Wonnen bringst, Vater der Millionen von Günstlingen, Jäger unter …
(Unterbrochen vom Ende der Aufnahme)
Dies waren die Worte, die ich zu hören bekam, als ich den Fonografen einschaltete. Widerwillig und mit einem Anflug echter Angst betätigte ich den Hebel, hörte das anfängliche Kratzen der Saphirnadel und war froh darüber, dass die ersten leisen, bruchstückhaften Worte von einer menschlichen Stimme gesprochen wurden – einer sanften, kultivierten Stimme mit schwachem Boston-Akzent, die sicherlich keinem Einheimischen des Berglandes von Vermont gehörte. Ich lauschte der quälend leisen Wiedergabe und sah, dass die Rede mit Akeleys sorgfältigem Manuskript übereinzustimmen schien. Ich hörte den sanften Singsang der Bostoner Stimme: »Iä! Shub-Niggurath! Die Ziege mit den
Weitere Kostenlose Bücher