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Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

Titel: Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. P. Lovecraft
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emporgestiegen sind.
    Neben dem Scheitelpunkt der Straße ragte ein noch höherer Bergzacken auf, trist und windumtost, und ich sah, dass es ein Totenacker war, wo schwarze Grabsteine ghoulisch aus dem Schnee stachen wie die verfaulten Fingernägel eines riesigen Leichnams. Die fährtenlose Straße war sehr einsam und zuweilen meinte ich, von fern das schreckliche Knarren eines Galgens im Wind zu vernehmen. Im Jahre 1692 waren vier meiner Ahnen wegen Hexerei gehängt worden, aber wo genau, das wusste ich nicht.
    Sobald sich die Straße die meerwärts gelegene Hügelflanke hinabschlängelte, lauschte ich nach den fröhlichen Klängen einer abendlichen Gemeinde, doch ich hörte keine. Dann gedachte ich der Jahreszeit und sagte mir, dass dieses alte Puritanervolk sehr wohl Weihnachtsbräuche pflegen mochte, die mir fremd waren, erfüllt von stummen Gebeten am heimischen Herd. Daher lauschte ich nicht länger nach Frohsinn und hielt keine Ausschau nach Wanderern, sondern schritt weiter bergab, vorbei an den stumm erhellten Bauernhäusern und schattigen Steinmauern, an denen die Schilder altertümlicher Kaufläden und Fischerkneipen in der salzgetränkten Meeresbrise knarrten und die grotesken Klopfer säulengeschmückter Hauseingänge im Lichtschein kleiner, verhängter Fenster aufglänzten, die die menschenleeren, ungepflasterten Gassen beiderseits säumten.
    Ich hatte Straßenpläne der Stadt gesehen und wusste, wo das Haus meiner Angehörigen zu finden war. Man hatte mir versichert, dass man mich erkennen und willkommen heißen würde, denn Dorflegenden sind zählebig. Daher eilte ich durch die Back Street zum Circle Court und über den frischen Schnee auf dem einzigen durchgehenden Stück Straßenpflaster des Ortes zur Einmündung der Green Lane hinter dem Market House. Die alten Stadtpläne stimmten noch und ich fand mich leicht zurecht; allerdings mussten sie in Arkham gelogen haben mit ihrer Behauptung, die Straßenbahn fahre bis hierher, denn ich sah nicht eine einzige Oberleitung. Ohnehin wären die Schienen unter dem Schnee verborgen gewesen. Ich war froh, mich für den Fußweg entschieden zu haben, denn die schneeweiße Stadt hatte vom Bergrücken aus einen wunderschönen Anblick geboten; und nun konnte ich es kaum erwarten, an die Tür meiner Verwandten zu pochen, am siebten Haus auf der linken Seite der Green Lane mit seinem altertümlichen Spitzdach und vorspringenden zweiten Stock, samt und sonders noch vor 1650 erbaut.
    Das Haus war von innen erhellt, als ich näher kam, und an den rautenförmig unterteilten Scheiben erkannte ich, dass man es fast in seinem urtümlichen Zustand belassen haben musste. Der obere Teil überragte die schmale grasbewachsene Straße und berührte beinah das vorspringende Stockwerk des gegenüberliegenden Gebäudes, sodass ich mich geradezu in einem Tunnel befand und die niedrige steinerne Türschwelle von Schnee völlig frei war. Einen Gehsteig gab es nicht, doch besaßen viele Häuser hoch gelegene Eingänge, die über Doppeltreppen mit Eisengeländern erreichbar waren. Es war eine eigentümliche Szenerie, und weil ich Neuengland nicht kannte, hatte ich dergleichen nie zuvor gesehen. Obschon es mir gefiel, wäre mir wohler dabei gewesen, hätte es Fußspuren im Schnee und Passanten in den Straßen gegeben und ein paar Fenster ohne zugezogene Vorhänge.
    Als ich den uralten eisernen Türklopfer benutzte, fürchtete ich mich ein wenig. Eine unbestimmte Angst war in mir aufgestiegen, vielleicht wegen meiner fremdartigen Abstammung und der Tristesse des Abends und der wunderlichen Stille in dieser alten Stadt sonderbaren Brauchtums. Und als man auf mein Klopfen reagierte, fürchtete ich mich erst recht, denn ich hatte keinerlei Schritte gehört, ehe die Tür knarrend aufschwang. Doch währte meine Furcht nicht lange, denn der alte Mann, der in Schlafrock und Pantoffeln im Türrahmen stand, besaß ein gütiges Gesicht, das meine Befürchtungen besänftigte; und obwohl er mit Gesten zu verstehen gab, dass er stumm war, schrieb er mir doch mithilfe des Griffels und der Wachstafel, die er bei sich trug, einen geschraubten und altväterlichen Willkommensgruß auf.
    Er winkte mich in einen niedrigen, von Kerzen erhellten Raum mit mächtigen, frei liegenden Deckenbalken und wenigen dunklen, strengen Möbeln aus dem siebzehnten Jahrhundert. Hier war die Vergangenheit lebendig, denn nicht ein Merkmal fehlte. Es gab einen grottenartigen Kamin und ein Spinnrad, an dem eine gebeugte alte Frau

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