Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

Titel: Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. P. Lovecraft
Vom Netzwerk:
Einhalt gebieten; ich schrie ihm ins Ohr, dass wir beide vor den unbekannten Wesen der Nacht fliehen müssten. Doch weder antwortete er mir, noch ließ die Raserei seiner unbeschreiblichen Musik nach, während in der ganzen Mansarde sonderbare Windströme in der Finsternis zu tanzen und zu flüstern schienen. Als ich mit der Hand sein Ohr berührte, erschauderte ich, obwohl ich nicht wusste, warum – bis ich sein starres Gesicht ertastete; das eiskalte, reglose Gesicht, dessen glasige Augen sinnlos ins Leere glotzten. Dann fand ich wie durch ein Wunder die Tür und stürzte panisch fort von diesem glasäugigen Ding in der Finsternis und dem teuflischen Geheul jener verfluchten Violine, deren rasendes Wüten sich bei meiner Flucht noch zu steigern schien.
    Ich rannte, sprang, flog die endlosen Treppenfluchten des dunklen Hauses hinunter; raste besinnungslos hinaus auf die enge, steile und uralte Straße voller Stufen und gebrechlicher Häuser; rannte über Treppen und Pflastersteine zu den tiefer gelegenen Straßen und dem faulig riechenden Fluss mit seinen Kais; hetzte keuchend über die finstere Brücke hin zu den breiteren, gesünderen Straßen und Boulevards, die wir alle kennen. Das sind grauenhafte Eindrücke, die mich nicht mehr loslassen. Und ich erinnere mich, dass dort kein Wind ging, dass der Mond am Himmel stand und dass alle Lichter der Stadt funkelten.
    Ungeachtet meiner überaus sorgfältigen Nachforschungen und Untersuchungen bin ich seither nicht mehr in der Lage gewesen, die Rue d’Auseil zu finden. Doch das bereue ich nicht sehr; weder das noch den Verlust der eng beschriebenen Blätter, die allein die Musik des Erich Zann hätten erklären können und von undenkbaren Abgründen verschlungen wurden.

Vorwort zu »Das Fest« (The Festival)
    Am 17. Dezember 1922 besucht Lovecraft zum ersten Mal das Hafenstädtchen Marblehead, wenige Kilometer nördlich von Boston gelegen. An seinen Freund James Ferdinand Morton schreibt er einige Jahre später über diesen Besuch: »Gott! Werde ich jemals meinen ersten überwältigenden Blick auf MARBLEHEADS gedrängte und altertümliche Häuser vergessen, wie ich sie im Schnee im Licht eines irrwitzigen Sonnenunterganges gesehen habe, an jenem 17. Dezember 1922, 4 Uhr nachmittags!!! Eine Stunde zuvor habe ich nicht gewusst, dass ich jemals einen solchen Ort erblicken würde, und bis zu jenem Augenblick selbst war mir das schiere Ausmaß des Wunders nicht bewusst, vor dem ich stehen würde. Ich zähle diesen Moment – 4.05 Uhr bis 4.10 Uhr am Nachmittag des 17. Dezember 1922 – als die emotional bewegendste Klimax meines bald vierzigjährigen Lebens. Blitzlichtartig schlug die gesamte Vergangenheit Neuenglands – die gesamte Vergangenheit des alten England – die gesamte Vergangenheit der Angelsachsen und der westlichen Welt – über mir zusammen und identifizierte mich mit der stupenden Totalität aller Dinge, in einer Weise, wie es nie zuvor geschehen war und niemals wieder geschehen wird. Das war der Höhepunkt meines Lebens. Ich war damals 32 – und seitdem gab es nur ein Regredieren zu einer zahmen Senilität; nur noch den Versuch, die Wunder der Offenbarung und Andeutung und kosmischen Identifikation wiederzugewinnen, die der Anblick damals in mir geweckt hat. […]« (vom 12.3.1930).
    Was Lovecraft hier beschreibt, ist eine echte mystische Erfahrung, eine Schau von Ganzheit und Totalität, von Konfrontation mit einer Geschichte der eigenen Kultur, welche für ihn zu einem prägenden Schlüsselerlebnis werden sollte, und zwar nicht so sehr wegen des emotionalen Gehaltes der Erfahrung (das ist das Missverständnis jener, die niemals etwas Vergleichbares erlebt haben), sondern wegen des Inhaltes, dessen, wessen er in der Schau Marbleheads ansichtig geworden war.
    In der Kurzgeschichte ›The Festival‹ vom Oktober 1923 hat Lovecraft nun diese Erfahrung aus dem Vorjahr umgesetzt, aber in etwas völlig Neues verfremdet. Nicht mehr die Geschichte der Zivilisation steht im Mittelpunkt, sondern ihr Verfall, ihre Abgründigkeit, ihr »Kellergeschoss«. Aus Marblehead wird »Kingsport«, ein Name, den er freilich schon in ›The Terrible Old Man‹ (1920) benutzt hatte (bevor er Marblehead kannte). Aber die Atmosphäre ist doch erkennbar, und Lovecraft hat den Zusammenhang zwischen dem fiktiven und dem realen Ort später immer wieder in Briefen erwähnt.
    Wie so oft geht es um die Konfrontation mit der Vergangenheit: »Nur die Armen und Einsamen erinnern sich«.

Weitere Kostenlose Bücher