Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
die Geschichte hörte, wusste auch er nicht weiter. Merwin war verschwunden, und es wäre sinnlos gewesen, die Nachbarn zu unterrichten, die allesamt die Gardners mieden. Sinnlos, jemanden in Arkham zu informieren, da man dort ohnehin nur über alles lachte. Thad war nicht mehr und Merwin verschwunden. Irgendetwas kroch immer näher heran und wartete darauf, gesehen und gehört zu werden. Auch Nahum fühlte sein Ende nahen; er bat Ammi darum, sich um seine Frau und Zenas zu kümmern, sollten sie ihn überleben. Das alles musste eine Art Strafe sein, doch wofür, das vermochte er sich nicht vorzustellen, da er seines Wissens die Gebote des Herrn stets gehorsam befolgt hatte.
Mehr als zwei Wochen lang sah Ammi Nahum nicht mehr; dann machte er sich Sorgen, es könnte wieder etwas passiert sein, überwand seine Ängste und stattete dem Gardner-Hof einen Besuch ab. Aus dem großen Kaminschlot drang kein Rauch, und einen Augenblick lang befürchtete der Besucher das Allerschlimmste. Das gesamte Anwesen bot einen bestürzenden Anblick – graues verwelktes Gras und ebensolches Laub bedeckten den Boden, der Efeu löste sich zerfallend von den alten Mauern und Giebeln, und große kahle Bäume krallten sich wie böswillig in den grauen Novemberhimmel, was Ammi auf deren unheimliche Veränderung zurückführte. Doch wenigstens war Nahum noch am Leben. Geschwächt lag er auf einem Sofa in der niedrigen Küche, aber er war bei klarem Bewusstsein und konnte Zenas einfache Befehle erteilen. In dem Zimmer war es eisig kalt, und weil Ammi sichtlich zitterte, schrie der Gastgeber mit rauer Stimme nach Zenas, er solle mehr Holz nachlegen. Holz war tatsächlich etwas, das sie bitter nötig hatten: Der tiefe Kamin war kalt und leer, und eine Rußwolke tanzte in dem eiskalten Wind, der den Schlot herabwehte. Bald darauf fragte Nahum ihn, ob das zusätzliche Holz es ihm behaglicher gemacht habe, und da erkannte Ammi, was geschehen war. Der letzte starke Faden war endlich gerissen, und der Geist des unglücklichen Bauern war nun für immer gegen Kummer gefeit.
Ammi fragte vorsichtig nach, konnte aber über den offenkundig verschwundenen Zenas nichts Genaueres in Erfahrung bringen. »Im Brunnen – er wohnt im Brunnen«, das war alles, was der umnachtete Vater dazu sagen konnte. Dann fiel dem Besucher schlagartig die verrückte Frau ein, und er fragte nach ihr. »Nabby? Na, hier ist sie doch!«, war die überraschte Antwort des armen Nahum, und Ammi sah ein, dass er selbst nachsehen musste. Er ließ den harmlosen Schwätzer auf dem Sofa zurück, nahm den Schlüsselbund vom Haken neben der Tür und stieg die knarrenden Stufen zur Dachkammer hinauf. Dort oben war es sehr eng, es roch übel, und nirgends war ein Laut zu hören. Von den vier Türen, die er vorfand, war nur eine verriegelt, und an dieser probierte er die verschiedenen Schlüssel, die er mitgebracht hatte. Der dritte Schlüssel passte, und nach einigem Gerüttel stieß Ammi die niedrige weiße Tür auf.
Im Innern war es ziemlich dunkel, denn das Fenster war klein und halb von groben Holzplanken verdeckt; auf dem Boden mit den breiten Dielen konnte Ammi überhaupt nichts erkennen. Der Gestank war unerträglich, und ehe er weitergehen konnte, musste er sich in ein Nebenzimmer zurückziehen und dort seine Lungen mit halbwegs frischer Luft füllen. Als er dann schließlich eintrat, erkannte er etwas Dunkles in der Ecke, und als er es genauer sah, schrie er laut auf. Noch während er schrie, glaubte er eine Art Wolke zu sehen, die das Fenster einen Moment lang verfinsterte, und eine Sekunde später streifte ihn so etwas wie ein widerwärtiger Dunst. Seltsame Farben tanzten ihm vor Augen; hätte ihn nicht ein unmittelbares Grauen betäubt, so hätte er an die Kugel im Meteoriten gedacht, die der Geologenhammer zerschmettert hatte, und an die kranke Vegetation, die im Frühjahr gediehen war. So allerdings dachte er nur an die blasphemische Ungeheuerlichkeit vor ihm, die nur allzu offensichtlich das entsetzliche Los des jungen Thaddeus und des Viehs geteilt hatte. Aber das Schlimmste an diesem Grauen war die Tatsache, dass es sich noch im Zerfall sehr langsam, aber sichtbar regte.
Ammi wollte mir von dieser Szene keine weiteren Einzelheiten berichten, doch die Gestalt in der Ecke kehrte in seiner Erzählung nicht mehr als sich bewegendes Objekt wieder. Es gibt Dinge, über die man nicht sprechen kann, und was man zuweilen aus reiner Menschlichkeit tut, wird manchmal vom Gesetz
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