Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
nach Merwin oder Zenas zu suchen. Danach gab es kein Zurück mehr, sie wollten den Brunnen unverzüglich trockenlegen und untersuchen. Und so musste Ammi zitternd warten, während Eimer um Eimer fauligen Wassers nach oben gelangte und auf den bald durchtränkten Boden ausgeschüttet wurde. Die Männer waren angewidert von der ekelhaften Flüssigkeit, und zum Schluss mussten sie sich vor der zutage kommenden Fäulnis die Nasen zuhalten. Die Arbeit dauerte nicht so lange, wie sie anfangs befürchtet hatten, da der Wasserpegel erstaunlich niedrig war. Es erübrigt sich eine allzu genaue Schilderung dessen, was sie entdeckten. Sowohl Merwin als auch Zenas wurden gefunden, zumindest teilweise, doch ihre Überreste waren fast gänzlich skelettiert. Man fand auch ein kleines Reh und einen großen Hund in einem ganz ähnlichen Zustand, außerdem eine Reihe von Kleintierknochen. Der Schlamm und Morast am Grunde des Brunnens schienen unerklärlich porös zu sein, gar zu brodeln; einer der Männer, der an den Handgriffen herabstieg, fand heraus, dass man einen langen Holzstab beliebig tief in den Schlammboden versenken konnte, ohne auf irgendeinen festen Widerstand zu stoßen.
Mittlerweile dämmerte der Abend, und man brachte aus dem Haus Laternen herbei. Als man dann erkannte, dass der Brunnen nichts mehr preisgeben würde, gingen alle ins Haus und beratschlagten sich in der alten Wohnstube, während der immer wieder von Wolken verdeckte gespenstische Halbmond die graue Einöde draußen fahl beleuchtete. Die Männer waren in diesem Fall mit ihrer Weisheit am Ende, da sie keinen überzeugenden Zusammenhang zwischen dem sonderbaren Zustand der Pflanzenwelt, der unbekannten Krankheit der Tiere und Menschen und dem unerklärlichen Tod von Merwin und Zenas am Grund des vergifteten Brunnens herzustellen vermochten. Natürlich hatten sie von den Gerüchten gehört, die im Landkreis umgingen; doch sie konnten einfach nicht glauben, dass hier etwas geschehen sein sollte, das gegen die Naturgesetze verstieß. Ohne Zweifel hatte der Meteorit das Erdreich vergiftet, aber damit ließ sich die Erkrankung von Menschen und Tieren, die nichts auf diesem Boden Gewachsenes verzehrt hatten, nicht erklären. Lag es am Brunnenwasser? Aller Wahrscheinlichkeit nach ja. Es war wohl eine gute Idee, es untersuchen zu lassen. Doch welche Art des Wahnsinns konnte die beiden Knaben dazu gebracht haben, sich in den Brunnen zu stürzen? Beide waren auf dieselbe Weise zu Tode gekommen – und ihre Überreste zeigten, dass beide an der Krankheit gelitten hatten, die alles Lebendige grau und spröde machte. Aber weshalb war alles so grau und mürbe?
Dem Leichenbeschauer, der neben einem Fenster saß, das den Hof überschaute, fiel das Glühen aus dem Brunnen als Erstem auf. Es war nun völlig dunkel draußen, und das gesamte scheußliche Gelände schien nicht nur von dem launenhaften Mondlicht beleuchtet zu sein. Dieses andere Licht aber war klar und deutlich zu sehen, es schien von dem schwarzen Schlund auszugehen wie ein gedämpfter Scheinwerfer und spiegelte sich schwach in den Lachen am Boden, wo die Männer das Brunnenwasser ausgeschüttet hatten. Es war von einer sehr eigenartigen Farbe, und als alle Anwesenden sich am Fenster versammelten, zuckte Ammi heftig zusammen. Die Farbe dieses seltsamen gespenstischen Lichtstrahls war ihm keineswegs unbekannt. Er hatte sie schon einmal gesehen und erschrak bei dem Gedanken an das, was sie bedeuten mochte. Er hatte sie zwei Sommer zuvor bei der zerbrechlichen Kugel in dem Meteoriten erblickt, in der verrückten Vegetation des folgenden Frühlings, und noch heute Morgen hatte er geglaubt, sie einen Augenblick lang vor dem kleinen, halb verrammelten Fenster der schrecklichen Dachkammer gesehen zu haben, wo sich Unaussprechliches abgespielt hatte. Eine Sekunde lang war sie aufgeflammt, und ein feuchter und ekelhafter Dunst hatte ihn gestreift – und dann war der arme Nahum von etwas in dieser Farbe hinweggerafft worden. Zumindest hatte er das gesagt – er hatte gesagt, es sei wie die Kugel und wie die Pflanzen. Darauf waren die Flucht des Pferdes und das Plätschern im Brunnen gefolgt – und jetzt spie dieser Brunnen einen fahlen tückischen Lichtstrahl von derselben dämonischen Farbe in die Nacht hinaus.
Es spricht für Ammis wachen Geist, dass er selbst in diesem angespannten Moment über eine Frage nachsann, die im Grunde wissenschaftlicher Natur war. Er wunderte sich darüber, dass er den gleichen
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