Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
Tageslicht aus meiner Lähmung auf der von Büschen überwachsenen Bahntrasse. Als ich auf die Straße vor mir torkelte, sah ich keinerlei Spuren im frischen Schlamm. Auch der Fischgeruch war verschwunden. Die verfallenen Dächer und einsturzgefährdeten Türme von Innsmouth ragten grau im Südosten auf, doch in den verlassenen Salzsümpfen um mich herum konnte ich kein lebendes Wesen entdecken. Meine Uhr funktionierte noch und zeigte mir, dass die Mittagsstunde bereits verstrichen war.
Die Wirklichkeit dessen, was ich meinte durchgemacht zu haben, kam mir noch höchst unsicher vor, doch ich fühlte, dass etwas Scheußliches hinter mir lag. Ich musste fort aus dem vom Bösen überschatteten Innsmouth – und deshalb fing ich an, meine erschöpften Glieder zu erproben. Trotz Schwäche, Hunger, Entsetzen und Verwirrung war ich durchaus in der Lage zu gehen; und so begann ich langsam meinen Weg über die von Schlamm bedeckte Straße nach Rowley.
Vor Anbruch des Abends erreichte ich das Dorf, nahm dort eine Mahlzeit ein und beschaffte mir vorzeigbare Kleidung. Ich nahm den Nachtzug nach Arkham und erzählte dort am nächsten Tag lang und ernst Vertretern der Regierung, was ich später in Boston wiederholen sollte. Mit dem Hauptergebnis dieser Unterredungen ist die Öffentlichkeit nun vertraut – und ich wünschte um der Normalität willen, es gäbe sonst nichts mehr zu berichten. Vielleicht ist es der Wahnsinn, der mich überwältigt – vielleicht erfasst mich aber auch ein schlimmeres Grauen – oder ein größeres Wunder.
Wie man sich wohl gut vorstellen kann, gab ich die meisten geplanten Vorhaben meiner restlichen Reise auf – die landschaftlichen, architektonischen und heimatkundlichen Studien, auf die ich mich so innig gefreut hatte. Ich wagte auch nicht, mir jenes merkwürdige Schmuckstück anzusehen, das sich angeblich im Museum der Miskatonic-Universität befand. Ich wertete meinen Aufenthalt in Arkham jedoch dadurch auf, dass ich einige genealogische Daten sammelte, die mich schon lange interessierten; sehr grobe und flüchtige Aufzeichnungen, das stimmt, doch können sie mir von großem Nutzen sein, falls ich mal mehr Zeit habe, sie zu vergleichen und zu ordnen. Der Kurator der dortigen historischen Gesellschaft – Mr. E. Lapham Peabody – war so höflich, mich zu unterstützen, und er zeigte ungewöhnliches Interesse, als ich ihm erzählte, ich sei ein Enkel von Eliza Orne aus Arkham, die 1867 geboren worden war und sich im Alter von 17 Jahren mit James Williamson aus Ohio vermählt hatte.
Es schien, dass einer meiner Onkel mütterlicherseits schon vor vielen Jahren auf einer ganz ähnlichen Suche hier gewesen war. Die Familie meiner Großmutter war in dieser Gegend sogar heute noch bekannt. Man habe, so Mr. Peabody, kurz nach dem Sezessionskrieg viel über die Heirat ihres Vaters Benjamin Orne geredet, da die Abstammung der Braut etwas unklar war. Sie war angeblich eine verwaiste Marsh aus New Hampshire – eine Kusine der Marshs aus Essex County –, war aber in Frankreich aufgewachsen und wusste sehr wenig über ihre Familie. Ein Vormund hatte auf einer Bostoner Bank Barvermögen für sie und ihre französische Gouvernante hinterlegt; aber der Name dieses Vormundes war den Menschen von Arkham unbekannt, und irgendwann verschwand er, sodass die Gouvernante vom Gericht zu seiner Nachfolgerin bestimmt wurde. Die Französin, die nun schon lange tot war, war äußerst verschwiegen gewesen, und einige Leute waren der Ansicht, dass sie mehr gewusst habe, als sie sagen wollte.
Doch das Erstaunlichste an der ganzen Sache war die allgemeine Unfähigkeit, die namentlich dokumentierten Eltern der jungen Frau – Enoch und Lydia (Meserve) Marsh – einer der bekannten Familien New Hampshires zuzuordnen. Möglicherweise, so deuteten viele an, war sie das uneheliche Kind eines berühmten Marsh – jedenfalls hatte sie die einzigartigen Marsh-Augen. Das größte Rätselraten begann aber erst nach ihrem frühen Tod; sie starb bei der Geburt meiner Großmutter – ihres einzigen Kindes. Da ich in Verbindung mit dem Namen Marsh einige unangenehme Eindrücke gewonnen hatte, freute ich mich nicht über die Nachricht, dass diese Familie zu meinem eigenen Stammbaum gehörte; auch war ich wenig erfreut über Mr. Peabodys Äußerung, ich hätte ebenfalls die einzigartigen Marsh-Augen. Ich war jedoch dankbar für alle Informationen, von denen ich wusste, dass sie sich als nützlich erweisen würden, und ich fertigte
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